3. Kapitel


LASZLO ILYES, „Sugar Loaf Cable Car - Bondinho Pão de Açúcar“, CC-Lizenz (BY 2.0)
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1

Regentropfen rannen eilig die Scheiben hinab und trommelten auf das Dach. Es gluckste in den Dachrinnen und gurgelte in den Gullys. Überall sammelte sich das Wasser in großen Pfützen. Die Welt versank im Nebel und Regen. Es war kalt. Fröstelnd saß ich in Wollpullover und Anorak eingemummt auf der verglasten Veranda und schaute in den düster verdämmernden Tag hinaus.
War es wirklich erst drei Tage her, seit ich zum letzten Mal in meinem Bett in Stuttgart aufgewacht war? Trubel um unsere Abreise hatte es nicht gegeben. Nicht, dass wir etwas gegen Rummel gehabt hätten, aber dieser Augenblick erschien eben nur uns bedeutungsvoll und den drei Freunden, die uns mit einem Kombi zum Bahnhof fuhren. Wie sehr jeder einzelne in seine eigenen Angelegenheiten verstrickt ist, wie wenig jeder an den Anliegen des anderen teilnimmt, das wurde uns an jenem Sonntag schmerzlich klar. Sang- und klanglos ging unser Aufbruch in ein neues Leben an fast allen, die bisher Teil unseres Lebens waren, vorbei. Sie hatten alle was Interessanteres vor, als uns hinterher zu winken.
Während mein Willi mit den Freunden das Gepäck im Wagen verstaute, schlich ich mich zurück in unsere Wohnung. Wollte ungestört den allerletzten Blick durch die Räume schweifen lassen: Großmutters Schaukelstuhl; die Bilder an den Wänden; das selbst gezimmerte Regal mit all den Erinnerungsstücken aus früheren Lebensabschnitten, von Begegnungen und Urlaubsreisen; meine Pflanzen, denen ich jeden Tag gut zugeredet hatte; der Birnbaum vor dem Fenster, der sich im Frühjahr in weiße Schleier hüllte; - für all das war kein Platz mehr in unserem Leben. So vieles musste zurückbleiben und bekam erst dadurch einen Wert für uns. Ein letztes Mal schaute ich in das winzige Badezimmer und streckte der ewig tropfenden Dusche fast wehmütig die Zunge heraus. Im Geist drehte ich dem griesgrämigen Nachbarn eine lange Nase. Ich schloss die Wohnungstür, drehte den Schlüssel im Schloss und steckte ihn in den Briefkasten.
Unser Nachmieter würde heute Abend einziehen. Während wir im Flugzeug der Neuen Welt entgegen düsten, würde er an unserem Tisch, von unseren Tellern, sein Abendbrot essen. Es ist ein komisches Gefühl bis auf ein paar Kleinigkeiten alles, was einem vertraut war, einem völlig fremden Menschen zu überlassen. Doch für alle Beteiligten war es die einfachste und billigste Lösung. Zumindest glaubten wir das zu diesem Zeitpunkt.
Im Laufe meines 37-jährigen Lebens habe ich unzählige Abenteuerbücher gelesen. Ob es zu Fuß durch Tibet ging, mit dem Motorrad von Alaska nach Feuerland, ob mit dem Segelboot rund um die Erde oder mit dem Faltboot um Kap Horn - all diesen Abenteurern schien gemeinsam, dass sie kühn und entschlossen zu neuen Horizonten aufbrachen und die Nase wohlgemut in den Wind strecken. Ich dagegen war verzagt bis zum Grund meiner Seele und hätte am liebsten die Notbremse gezogen, als der Zug den Stuttgarter Bahnhof verließ und langsam über den Wirrwarr von Gleisen und Weichen rüttelte. Meine tränenblinden Augen suchten nach Vertrautem, wollten sich festhalten an den Bäumen im Schlossgarten, hielten Ausschau nach einem Fleckchen Rosensteinpark. Dass er, wie ich mir in meinem Kurs für Reiseleiter hatte sagen lassen, der größte Landschaftspark Südwestdeutschlands und eine der letzten klassischen „englischen“ Gartenanlagen war und unter Dankmalschutz steht, das war mir in diesem Moment völlig egal. Vielmehr schoss mir durch den Kopf, dass vor ein paar Jahren hier im Park, an einem trüben, nasskalten Sonntagnachmittag im Winter, mein Willi um meine Hand anhielt.
Am Frankfurter Flughafen wartete Konrad, seine kleine Tochter an der Hand, zum Lebewohl-Sagen. Konrad, meine erste Ferienliebe, an der mein 14-jähriges Herz fast zerbrochen wäre. Konrad, der mir Jahre später zum treuesten Freund wurde, auch dann für mich da war, als es sonst keinen mehr gab. Ich fühlte mich auf einmal ganz zuversichtlich. Amerika, wir kommen!
Zwischenstopp in Madrid. Wir saßen die halbe Nacht im Flughafen herum, auf unbequemen Plastik-Sesseln. Krampfhaft hielt ich den Stapel mit meinen drei Hüten auf dem Schoß. An was des Menschen Herz doch hängt! Trotz Klimaanlage schwitzten wir erbärmlich. Endlich, zwischen Mitternacht und Morgen flogen wir weiter.
Auf dem langen Nachtflug über den Atlantik war ich irgendwann in einen unruhigen Schlaf gefallen, aus dem ich im ersten Morgengrauen wie gerädert erwachte. Noch bevor ich die Augen öffnete, war mir sofort bewusst, dass dieser Flug keine Urlaubsreise war, sondern der erste Schritt in ein neues, völlig ungewisses Leben. Angst kroch in mir hoch und schnürte mir die Kehle. Ich schaute aus dem Flugzeugfenster und sah zwischen weißen Wolkenfeldern im Morgengrauen eine dunkle Landmasse, hin und wieder unterbrochen von bleifarbenen Fäden: Urwald im Dämmerlicht des neuen Tages, durchzogen von geheimnisvollen Flüssen. Südamerika! Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich meine Hand in die Hand meines Willis schob, der neben mir döste.
„Ich will heim“, murmelte ich.
„Wohin?“, brummte er und schlief weiter.
Ja, wohin?
Wir hatten kein Heim mehr. Nur das Zelt, das für lange Zeit unser Zuhause werden sollte. Nichts hatte uns gezwungen die biedere Sicherheit aufzugeben, auf und davon zu gehen, aus unserem wohlgeordneten Dasein im schwäbischen Ländle auszubrechen und fast am Ende der Welt, im wilden Patagonien, neu anzufangen. Mit einem kurzen Vorspiel in Brasilien.
Übernächtigt und aufgeregt standen wir nach der Ankunft in Rio de Janeiro in einer langen Menschenschlange vor der Zollabfertigung. Würde uns Jochen tatsächlich abholen? Auf seine Anzeige in einer Zeitschrift hatten wir vor Wochen ein Zimmer in seinem Gästehaus in Petrópolis reserviert. Mit einem festen Händedruck hieß uns der kleine, stämmige Mann willkommen und verstaute unser Gepäck in seinem Wagen.
Alles erschien mir so unwirklich an jenem Morgen: Der wolkenverhangene Himmel über dem grauen Häusermeer der Randbezirke dieser Millionenstadt; die fünf Geier und der aufgeblähte Hundekadaver neben der Schnellstraße; unzählige Autobusse, die uns in halsbrecherischen Manövern von allen Seiten bedrängten; an jeder roten Ampel zerlumpte Gören, die sich ins Verkehrsgewühl stürzten, für ein paar Münzen mit schmierigen Lappen eine Reinigung der Windschutzscheibe andeuteten; unter jeder Überführung die windschiefen Schlupfwinkel der Ärmsten aus Kartons, Brettern und rostigen Blechen.
Schließlich lag auch der letzte Lagerschuppen, die letzte Elendshütte dieser Mammutstadt hinter uns, und der Wagen erklomm die rasch ansteigende Landstraße. Dichter Wald überzog die Berghänge, die jäh abstürzten in enge Schluchten. Nach oben verlor sich die Landschaft im Nebel.
Unterwegs hielten wir an und Jochen lud uns in einer Kneipe zu unserer ersten Caipirinha ein. Das ist ein Getränk aus Zuckerrohrschnaps und zerstampften Limetten mit viel Eis. Das hob unsere Lebensgeister.
Die alte Kaiserstadt Petrópolis ist ein steiles Auf und Ab von Straßen mitten in den Bergen. Die Temperaturen sind auch im Sommer recht angenehm in dieser Höhe, und viele wohlhabende Cariocas (Einwohner der Stadt Rio) haben hier ihren Sommersitz. Jochens Frau und die beiden Kinder begrüßten uns wie alte Freunde, und weil gerade keine Gäste da waren, durften wir uns unser Zimmer selber aussuchen. Gleich nach der Ankunft hatte es zu regnen begonnen und seither auch nicht eine Minute aufgehört. Wir saßen schon den dritten Tag auf der Glasveranda und blätterten lustlos in alten Illustrierten oder lagen fröstelnd unter der Bettdecke, starrten in den grauen Tag und lauschten dem Regen. So hatten wir uns Brasilien nicht vorgestellt.


2


Auf unserer Reise durch Patagonien hatten wir Julia und Antonio kennengelernt. Als wir sie aus Petrópolis anriefen, luden sie uns spontan für einige Tage zu sich ein. So zogen wir eine Woche später aus den verregneten Bergen in das graue, diesige Rio de Janairo, wo der Philosoph und Schriftsteller mit seiner temperamentvollen Frau und einem fetten, trägen Kater das kleine, aber sehr feine Apartment an der Copacabana bewohnte. Alle Fenster gingen auf einen Innenhof, der von exotischen Pflanzen überwuchert war. Julias kleines Paradies. Die Wohnung war das reinste Museum. Das weitgereiste Paar hatte unzählige Kostbarkeiten aus aller Herren Länder zusammengetragen, und beide wussten allerhand Historisches und Prähistorisches aus den verschiedenen Regionen dieses Erdteils zu berichten. Tausende von hervorragenden Fotos erzählten von ihren Erlebnissen. Manchmal saßen wir abends stundenlang über Fotoalben gebeugt und doch war es nur ein kleiner Teil dessen, was noch in den Regalen stand.
Tagsüber streiften wir durch „die schönste Stadt der Welt“, wie es in unserem Reiseführer hieß, die sich uns mit ihren Reizen und Widerlichkeiten als zwiespältiges Ungeheuer darstellte. Die freundliche Dame im Büro der Touristeninformation, mit der wir in Englisch und Spanisch radebrechten, empfahl uns, unter anderem den Besuch des Künstlerviertels Santa Tereza, das an einem der vielen Hänge Rios über der Guanabarra- Bucht liegt. Wir sollten für unseren Ausflug die antike Straßenbahn benutzen.
„Aber bitte, steigen Sie auf keinen Fall unterwegs aus“, schärfte sie uns ganz eindringlich mehrmals ein. „Nehmen Sie für die Rückfahrt die gleiche Bahn. Sie hat an der Endstation mehrere Minuten Aufenthalt. Währenddessen können Sie die Aussicht genießen, aber bleiben sie auf keinen Fall allein dort oben.“
Eine halbe Stunde später quetschten wir uns auf eine Holzbank im vollbesetzten Bähnchen, das sich kurz darauf quietschend und kreischend durch malerische Straßen den Berg hinan wand. Bis auf das Dach, das die Fahrgäste vor Sonne und Regen schützen sollte, war das pittoreske Gefährt offen. Trotz des trüben, kühlen Tages war die Fahrt mit Ausblick auf die Stadt und die Bucht großartig. Doch schnell wurde das Vergnügen zum Alptraum.
In einer Kurve, als die Bahn nur noch in Schrittgeschwindigkeit fuhr, sprangen drei Burschen auf den Wagen. Sofort riss einer der Rowdys einem Fahrgast die Mütze vom Kopf und schleuderte sie in hohem Bogen in einen Vorgarten. Lautstark beschimpften und bespuckten die Drei sich gegenseitig über die Köpfe der Fahrgäste hinweg, um sich dann in wilder Jagd zu verfolgen. Behände balancierten sie auf den Trittbrettern, sprangen auf den Lehnen der Bänke kreuz und quer durch den Waggon und schwangen die drahtigen Leiber um das Gestänge des Wagens. Plötzlich hielten sie inne und belauerten sich. Einer stand breitbeinig hinter mir auf der Rücklehne, seine Füße rechts und links neben meinem Kopf. Ich war vor Schreck ganz starr. Kein Mensch im Wagen rührte sich, alle schienen wie versteinert. Ich konnte das gar nicht verstehen. Warum sagte oder tat denn keiner was? Warum hielt denn der Fahrer nicht an? Und wenn der Bursche mir jetzt einen Fußtritt gab?
„Ich hau dem Kerl gleich eine rein, wenn das nicht aufhört“, knurrte mein Willi.
Das gab mir den Rest.
„Halt die Klappe“, zischte ich.
Wenn wir nur schon wieder in der Stadt unten wären! Ich tat so, als würde ich die Umgebung betrachten, durch die wir fuhren. Nur nichts anmerken lassen. Dabei sah man mir meine Angst sicher an der Nasenspitze an. Unvermittelt nahmen die drei ihre Verfolgungsjagd wieder auf, rasten wie irrsinnig um uns und über uns hinweg. Auf einmal war der Spuk vorbei. In einer Kurve sprangen sie ab und verschwanden in einem der Gässchen. Noch immer rührte sich keiner. Das Ganze mochte nur eine oder zwei Minuten gedauert haben, aber mir schien es eine Ewigkeit.
Den Rest der Fahrt hatte ich keinen Blick mehr für die Schönheiten der Umgebung. An der Endhaltestelle stiegen wir aus, um bis zur Rückfahrt das Panorama von der Aussichtsplattform zu betrachten. Anstatt ins Tal und über die umliegenden Hügel zu blicken, ließ ich kein Auge von der Straßenbahn.
„Wenn wir doch schon wieder unten in der Stadt wären“, wiederholte ich immer wieder, bis mein Willi mich ärgerlich anfuhr:
„Stell dich doch nicht so an. Es ist ja nichts passiert.“
Ich wusste, dass auch er Angst hatte.
„In dieser Stadt werden täglich Banken überfallen, Menschen ausgeraubt und umgebracht. Wir gehen schon lange abends nicht mehr aus dem Haus“, sagte Antonio abends, als wir ihm von unserem Ausflug erzählten.
„Früher gingen wir regelmäßig in die Oper und ins Konzert. Heute sitzen wir vor dem Fernseher. Das ist sicherer.“


3


Unseren Abschied von Rio nahmen wir auf dem Zuckerhut. Mit der Seilbahn fuhren wir am letzten Abend hinauf. Nach einem diesigen Tag hatte sich der Himmel aufgeklart und das Abendrot übergoss den Himmel und die Stadt. Schatten krochen in die Häuserschluchten, dehnten sich aus und verschlangen Farben und Formen. Erste Lichter blinkten auf. Schnell stieg die Nacht aus dem Atlantik und umhüllte das Land mit einem kühlen Hauch. Prächtig erstrahlte im Neonglanz das Häusermeer und die Lichterketten der Strandpromenaden von Leblon bis zur Copacabana. Zu unseren Füßen schimmerte der Strand von Botafogo, dümpelten die Boote im Jachthafen. Weiter draußen, auf dem nachtschwarzen Wasser der Bucht glimmten wie Glühwürmchen die Positionslichter der Schiffe. Kühn schwang sich die Brücke durch das Dunkel hinüber nach Niterói. Über allem breitete im Scheinwerferlicht weithin sichtbar Christus auf dem Corcovado seine Arme aus. Fassungslos oder segnend, hilflos oder beschützend?
Mein Willi und ich standen sehr lange schweigend beieinander und ließen die Bilder auf uns wirken. Diese Stadt, die auf Grund ihrer landschaftlichen Lage mit zu den schönsten der Welt zählt: Was barg sie alles in ihren Eingeweiden? In einer Woche hast du nicht einmal ihre Haut kennengelernt. Wir hatten die Schätze in ihren Museen und den kostbaren Auslagen der Geschäfte an der Copacabana bewundert; den Hauch des Zerfalls wahrgenommen, im immer noch schönen Botanischen Garten; die prunkvollen historischen Bauwerke besichtigt; die Augen vor Entsetzen abgewandt, angesichts offener Kinderprostitution; mit hilfloser Betroffenheit sind wir den zahllosen, zerlumpten Bettlern ausgewichen, jeden Augenblick ängstlich besorgt um unsere persönliche Sicherheit. Obwohl wir in Jochen einen echten Freund und in Julia und Antonio aufmerksame Gastgeber gefunden hatten, fiel uns der Abschied leicht, als wir nach Norden aufbrachen, auf der Suche nach Palmenstränden unter tropischer Sonne. Wir waren wurzellos geworden. Die Ungewissheit unserer Zukunft machte uns rastlos und unfähig, die menschliche Wärme, die uns so großzügig zuteil geworden war, wirklich in uns aufzunehmen.
An dieser Stelle sei Jochen herzlich gedankt, dass wir unser Geld in seinem Safe und den Großteil unseres Gepäcks in seinem Schlafzimmer lassen durften, während wir fast drei Monate in Brasilien herumreisten.


4


Mein Willi schlief, den Kopf an meiner Schulter. Ich starrte hinaus in die fremde Dunkelheit, in welche die Scheinwerfer des Busses Löcher rissen, die sich füllten mit dem Gras und Kraut, das am Straßenrand wucherte. Büsche und Bäume erschienen aus dem Nichts, flogen wie Schemen vorbei und verschwanden im Nichts. Manchmal streifte der Lichtfinger über große Felder und verlor sich in der Finsternis. Der Bus fuhr sehr langsam auf der Betonpiste und wich alle paar Meter riesigen Schlaglöchern aus. Nur vereinzelt begegneten wir im Laufe der Nacht entgegenkommenden Autos. Oft sah man auf lange Strecken kein einziges Licht im weiten Umkreis.
Auf unseren Urlaubsreisen oder Wochenend-Wanderungen habe ich eine gute Portion Ungewissheit sehr geliebt. Wie anders war das jetzt, wo wir kein Zuhause mehr hatten, in das wir nach weiter Reise zurückkehren konnten. Schaute ich nach hinten, war nichts als Erinnerung geblieben, schaute ich nach vorn, war nichts als Ungewissheit. Ich erschauerte innerlich. Würden wir dem allem gewachsen sein? Ich versuchte in meinem Inneren Ordnung zu schaffen, nicht so weiträumig zu denken. Für uns gab es nur das Hier und Jetzt.
Was wir als allererstes brauchten: Einen Campingplatz, an einem weißen Sandstrand. Dort würden wir im Schatten der Palmen unsere Bleibe einrichten. Unser heimischer Herd würden die sorgfältig von meinem Willi aufgeschichteten Steine einer Feuerstelle sein. Inzwischen war uns klar, dass wir mit den 1700 Mark, die uns für die nächsten 10 Wochen zur Verfügung standen, niemals auch nur einigermaßen bequem über die Runden kommen konnten. Trotzdem glaubte ich noch immer, dass es auf dem Land möglich sei, billig Fisch zu bekommen, frisch aus dem Netz des Fischers, und dass exotische Früchte in Hülle und Fülle überall zu haben wären. Das Bad im lauen Meer war ohnehin gratis. Unser schmaler Geldbeutel erlaubte uns keine weite Reise, um die Sonne zu finden. Wir ahnten nicht, dass eine Strecke so weit wie von Norddeutschland nach Südfrankreich vor uns lag, und wir trotzdem weder die Sonne noch den geträumten Palmenstrand finden würden.
 Janusz Leszczynski, „Paradise - Please Enter“, CC-Lizenz (BY 2.0)
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Bei unserer Planung war uns niemals in den Sinn gekommen, dass es im südlichen Teil Brasiliens im Winter zum Zelten zu kalt und unwirtlich sein könnte, und auch nördlich von Rio die meisten Campingplätze nur in der Sommersaison geöffnet haben. Gewöhnlich liegen sie so abseits, dass man ein Auto gebraucht hätte, um sie zu erreichen.
Ach, alles war so ganz anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Meine Gedanken wanderten ein paar Tage zurück: Wir suchten in Rio das Büro des „Camping-Club do Brasil“ auf, um uns einen Campingführer zu beschaffen. Dabei erfuhren wir, dass jede Übernachtung 34 DM kosten würde.
„Für Mitglieder ist das natürlich wesentlich billiger“, sagte der rassige, dunkeläugige, sehr gepflegte Schönling hinter der Theke.
Na, dann werden wir halt Mitglied. Er schob uns ein Formular her. Fast fallen uns die Augen aus dem Kopf. Der Jahresbeitrag: 1500 DM. Das muss ein Druckfehler sein! Oder verhedderten wir uns zwischen den vielen Nullen? Ich ging beiseite, starrte aus dem elften Stockwerk hinab auf die Straße. Was sollte aus uns werden? Wie sollte es weitergehen? Wir zerrissen das Formular und gingen.
Nachdem wir eine Weile ratlos in einer schäbigen, lauten Kneipe einen großen Fingerhut voll Kaffee getrunken hatten, beschlossen wir, zum Jugendherbergsverein zu gehen. Nach einer stundenlangen Irrfahrt hielten wir am späten Nachmittag einen Jugendherbergsausweis und ein Verzeichnis aller Herbergen in Brasilien in den Händen und waren um 50 DM ärmer. Abends klärte uns Antonio darüber auf, dass es auch Campingplätze gäbe, die nicht dem Club angeschlossen seien. Dort sei das zelten viel, viel billiger. Campingurlaub sei nicht sehr populär und eigentlich ein Privileg der Reichen.
Irgendwann sind mir in dieser Nacht im Bus, trotz aller Grübeleien, die Augen zugefallen. Ich erwachte erst am frühen Morgen, als wir in einen Busbahnhof einfuhren.


5


Steifbeinig stiegen wir nach der langen Fahrt aus und nahmen unser Gepäck in Empfang. Jeder schulterte seinen Rucksack, ich nahm den Packen mit unseren ISO-Matten, und mein Willi griff nach dem Matchsack mit dem Handgepäck. Wir traten hinaus auf die Straße. Die Sonne schien und es wehte eine leise Brise. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden. Wir hatten in unserem Campingführer ungefähr 15 km von hier einen Campingplatz entdeckt, der zwar ein paar hundert Meter vom Meer entfernt, aber dafür durch regelmäßige Busverbindungen gut zu erreichen war.
„Sollten wir nicht erst einmal etwas frühstücken?“ schlug mein Willi vor.
„Die Läden sind so früh noch gar nicht geöffnet. Lass uns lieber jetzt gleich zum Campingplatz fahren, das Zelt aufstellen und dann kommen wir in Ruhe zurück, essen, kaufen ein und schauen uns die Stadt an.“
Mein Willi sträubte sich ganz unvernünftig gegen meinen vernünftigen Vorschlag; ihm knurrte der Magen. Als er aber erfuhr, dass der nächste Bus erst in drei Stunden fahre, gab er sich geschlagen.
„Dafür esse ich nachher das Vierfache“, kündigte er an.
Wir waren voller Optimismus an jenem Morgen. Als der Bus die Stadt in Richtung Süden verließ, zeigten wir dem Fahrer in unserem Reiseführer die Adresse des Campingplatzes. Er schaute uns fragend an, nickte dann aber und bedeutete, dass er uns Bescheid geben wolle. Ich war etwas enttäuscht von der Landschaft. Leicht gewellt und sandig, mit niedrigen Büschen karg bewachsen, zog sich das Gelände rechts und links der Straße Kilometer um Kilometer eintönig dahin. Das Meer erahnte man am dunstigen Horizont im Osten. Irgendwo wurde diese Eintönigkeit unterbrochen von einer riesigen, schwarzen Rauchsäule, die in den hellen Morgenhimmel empor quoll. Genau dort hielt der Bus, und der Fahrer bedeutete uns, dass wir am Ziel waren.
Ein schmaler Feldweg führte zu einem Grundstück, wo Reifen lagerten. Der stinkende Rauch stammte von einem riesigen, schwelenden Haufen Gummiabfall. Ein Stück weiter verschloss ein Eisentor die Zufahrt zu einer kurzen Palmenallee, an deren Ende ein langgestrecktes, weißes Gebäude lag. Darum herum war ein großes, sandiges Gelände ohne Bäume, ohne Sträucher. Ein Blick von der Straße aus hatte uns genügt, um zweierlei festzustellen: Erstens, war der Campingplatz nicht geöffnet. Kein Mensch war zu sehen. Zweitens, wären wir um keinen Preis der Welt auch nur einen Tag hier geblieben. Wortlos schauten wir uns an, schulterten das Gepäck und brachten es auf die andere Straßenseite.
„Mit dem nächsten Bus fahren wir zurück“, sagte mein Willi.
Schweigend starrten wir die schnurgerade Landstraße entlang. Wir standen sicher schon eine halbe Stunde, als das erste Auto vorbeiflitzte. Wir versuchten es anzuhalten, aber der Fahrer gönnte uns nicht einmal einen Blick. Wir schauten uns kurz an und zuckten die Schultern. Etwas später tauchte in der Ferne endlich ein Bus auf. Wir atmeten auf, schulterten das Gepäck und stellten uns breitbeinig auf die Straße, um ihn anzuhalten. Mit ohrenbetäubendem Hupen preschte er an uns vorbei. Wir schauten uns bestürzt an.
„Und nun?“ sagten wir wie aus einem Mund.
„Viel Verkehr ist hier nicht“, stellte mein Willi scharfsinnig fest, als nach weiteren zwanzig Minuten ein Auto aus der Gegenrichtung vorbeifuhr.
Die Sonne brannte inzwischen recht heiß auf uns nieder. Ich hatte Hunger, Durst, war müde und bedrückt. Mein Willi starrte bärbeißig vor sich hin. Was sollte jetzt mit uns werden? Wo sollten wir hin?
Wir warteten schon fast zwei Stunden, als wieder ein Bus in der Ferne auftauchte. Mein Willi war zu allem entschlossen. Er stellte unser Gepäck mitten auf die Straße, pflanzte sich, die Hände in die Hüften gestützt, breitbeinig dahinter auf und sah dem Vehikel grimmig entgegen.
„Den mach ich ungekocht fertig, wenn er nicht anhält“, stieß er wütend hervor.
„In dem Fall wirst du dazu wohl kaum Gelegenheit finden. Pass lieber auf, dass er dich nicht überfährt.“
Es war der gleiche Bus, mit dem wir hergekommen waren. Der Fahrer grinste freundlich, half uns, das Gepäck zu verstauen, dann ließen wir uns aufatmend in die Sitze fallen. Mein Willi befragte seine Landkarte und den Reiseführer und kam zu dem Schluss, dass uns nichts anderes übrig blieb, als die Reise nach Norden fortzusetzen.
„Jetzt frühstücken wir erst mal und dann fahren wir nach Porto Seguro“, sagte mein Willi, als wir vor dem Busbahnhof ausstiegen.
„Sollten wir nicht vorsichtshalber erst schauen, wann ein Bus fährt und dann erst etwas essen?“ entgegnete ich.
Sehr unwillig folgte mir mein halb verhungerter Willi, als ich, ohne seine Antwort abzuwarten, schnurstracks zum Informationsschalter spurtete.
„Das darf doch nicht wahr sein! Der einzige Bus fuhr heute Morgen, als wir aus Rio angekommen sind. Wären wir nicht zu diesem schrecklichen Campingplatz gefahren...“ stöhnte mein Willi und feuerte das Gepäck auf eine Bank.
Nach kurzem hin und her begriff ich, dass der Mann am Schalter uns riet, den Bus, der in 10 Minuten nach Eunapolis abfuhr, zu nehmen. Wir könnten dann dort, mit ein wenig Glück, abends noch einen Anschluss bekommen nach Porto Seguro. Mein Willi rannte los, um etwas Essbares aufzutreiben; immerhin waren seit unserer letzten Mahlzeit vierzehn Stunden vergangen, und vor dem späten Abend würden wir nicht am Ziel sein.
Atemlos stürmte mein Willi im letzten Augenblick vor der Abfahrt des Busses durch die Halle. Er hielt zwei braune Papiertüten in der einen und eine Flasche Mineralwasser in der anderen Hand. Kaum saßen wir auf unseren Plätzen, waren wir auch schon unterwegs. Mein abgehetzter Willi nahm zuerst einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Danach erzählte er, immer noch ein wenig atemlos und mit Schweißtröpfchen auf der Stirn, dass er durch die Straßen gerannt sei und zuerst keine Bäckerei gefunden habe. Schließlich habe er dann eine Frau nach pao gefragt und sie habe ihm den Weg gewiesen.
„Bis auf diesen einen Laib Brot war alles ausverkauft“, sagte er und zog ein kleines, sehr dunkel gebackenes Brot aus der Tüte. „Auf der Straße kam ich an einem Stand mit ganz großen Bananen vorbei und ich brachte gleich drei Kilo. Mehr konnte ich in der kurzen Zeit nicht ergattern“, schloss er seinen Bericht.
Es waren wirklich große, dicke Bananen.
„Noch etwas grün, die Dinger“, wagte ich zögernd festzustellen.
„Jetzt iss und sei still. Es gab keine anderen“, sagte mein Willi und hieb seine Zähne in einen großen Kanten Brot.
Ich schälte mir eine Banane und biss hinein. Sie war hart und pelzig, zum rohen Genuss völlig ungeeignet. Später erfuhren wir, dass mit dieser Sorte Kochbananen wirklich leckere Gerichte hergestellt werden. So kam es, dass wir uns trockenes Brot und Mineralwasser teilten. Die Tüte mit den großen, dicken Bananen landete im Gepäcknetz und wenn sie nicht irgendeiner mitgenommen hat, dann liegen sie dort noch heute.
Wir saßen einen heißen Tag lang im Bus. Erst nach Einbruch der Dunkelheit kamen wir in Eunapolis an, gerade als der letzte Bus nach Puerto Seguro den Busterminal verlassen wollte. Wir waren nicht die einzigen, die aus dem Bus drängelten, aber sicher die schüchternsten. Nur den anderen Dränglern verdankten wir, dass der abfahrende Bus noch einmal anhielt, nachdem sie lautstark auf sich aufmerksam gemacht hatten. Zwei Stunden lang standen wir eingekeilt zwischen schwitzenden Leibern schweigender Menschen, während der Bus die Dunkelheit durchpflügte. Ich zitterte vor Müdigkeit und Aufregung. Würden wir so spät im unbekannten Ort eine Unterkunft finden?



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