LASZLO ILYES, „Sugar Loaf Cable Car - Bondinho Pão de Açúcar“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Bild stammt aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de |
1
Regentropfen
rannen eilig die Scheiben hinab und trommelten auf das Dach. Es
gluckste in den Dachrinnen und gurgelte in den Gullys. Überall
sammelte sich das Wasser in großen Pfützen. Die Welt versank im
Nebel und Regen. Es war kalt. Fröstelnd saß ich in Wollpullover und
Anorak eingemummt auf der verglasten Veranda und schaute in den
düster verdämmernden Tag hinaus.
War
es wirklich erst drei Tage her, seit ich zum letzten Mal in meinem
Bett in Stuttgart aufgewacht war? Trubel um unsere Abreise hatte es
nicht gegeben. Nicht, dass wir etwas gegen Rummel gehabt hätten,
aber dieser Augenblick erschien eben nur uns bedeutungsvoll und den
drei Freunden, die uns mit einem Kombi zum Bahnhof fuhren. Wie sehr
jeder einzelne in seine eigenen Angelegenheiten verstrickt ist, wie
wenig jeder an den Anliegen des anderen teilnimmt, das wurde uns an
jenem Sonntag schmerzlich klar. Sang- und klanglos ging unser
Aufbruch in ein neues Leben an fast allen, die bisher Teil unseres
Lebens waren, vorbei. Sie hatten alle was Interessanteres vor, als
uns hinterher zu winken.
Während
mein Willi mit den Freunden das Gepäck im Wagen verstaute, schlich
ich mich zurück in unsere Wohnung. Wollte ungestört den
allerletzten Blick durch die Räume schweifen lassen: Großmutters
Schaukelstuhl; die Bilder an den Wänden; das selbst
gezimmerte
Regal mit all den Erinnerungsstücken aus früheren
Lebensabschnitten, von Begegnungen und Urlaubsreisen; meine Pflanzen,
denen ich jeden Tag gut zugeredet hatte; der Birnbaum vor dem
Fenster, der sich im Frühjahr in weiße Schleier hüllte; - für all
das war kein Platz mehr in unserem Leben. So vieles musste
zurückbleiben und bekam erst dadurch einen Wert für uns. Ein
letztes Mal schaute ich in das winzige Badezimmer und streckte der
ewig tropfenden Dusche fast wehmütig die Zunge heraus. Im Geist
drehte ich dem griesgrämigen Nachbarn eine lange Nase. Ich schloss
die Wohnungstür, drehte den Schlüssel im Schloss und steckte ihn in
den Briefkasten.
Unser
Nachmieter würde heute Abend einziehen. Während wir im Flugzeug der
Neuen Welt entgegen düsten,
würde er an unserem Tisch, von unseren Tellern, sein Abendbrot
essen. Es
ist ein
komisches Gefühl bis auf ein paar Kleinigkeiten alles, was einem
vertraut war, einem völlig fremden Menschen zu überlassen. Doch für
alle Beteiligten war es die einfachste und billigste Lösung.
Zumindest glaubten wir das zu diesem Zeitpunkt.
Im
Laufe meines 37-jährigen Lebens habe ich unzählige Abenteuerbücher
gelesen. Ob es zu Fuß durch Tibet ging, mit dem Motorrad von Alaska
nach Feuerland, ob mit dem Segelboot rund um die Erde oder mit dem
Faltboot um Kap Horn - all diesen Abenteurern schien gemeinsam, dass
sie kühn und entschlossen zu neuen Horizonten aufbrachen und die
Nase wohlgemut in den Wind strecken. Ich dagegen war verzagt bis zum
Grund meiner Seele und hätte am liebsten die Notbremse gezogen, als
der Zug den Stuttgarter Bahnhof verließ und langsam über den
Wirrwarr von Gleisen und Weichen rüttelte. Meine tränenblinden
Augen suchten nach Vertrautem, wollten sich festhalten an den Bäumen
im Schlossgarten, hielten Ausschau nach einem Fleckchen
Rosensteinpark. Dass er, wie ich mir in meinem Kurs für Reiseleiter
hatte sagen lassen, der größte Landschaftspark Südwestdeutschlands
und eine der letzten klassischen „englischen“ Gartenanlagen war
und unter Dankmalschutz steht, das war mir in diesem Moment völlig
egal. Vielmehr schoss mir durch den Kopf, dass vor ein paar Jahren
hier im
Park, an einem trüben, nasskalten Sonntagnachmittag im Winter, mein
Willi um meine Hand anhielt.
Am
Frankfurter Flughafen wartete Konrad, seine kleine Tochter an der
Hand, zum Lebewohl-Sagen.
Konrad, meine erste Ferienliebe, an der mein 14-jähriges Herz fast
zerbrochen wäre. Konrad, der mir Jahre später zum treuesten Freund
wurde, auch dann für mich da war, als es sonst keinen mehr gab. Ich
fühlte mich auf einmal ganz zuversichtlich. Amerika, wir kommen!
Zwischenstopp
in Madrid. Wir saßen die halbe Nacht im Flughafen herum, auf
unbequemen Plastik-Sesseln. Krampfhaft hielt ich den Stapel mit
meinen drei Hüten auf dem Schoß. An was des Menschen Herz doch
hängt! Trotz Klimaanlage schwitzten wir erbärmlich. Endlich,
zwischen Mitternacht und Morgen flogen wir weiter.
Auf
dem langen Nachtflug über den Atlantik war ich irgendwann in einen
unruhigen Schlaf gefallen, aus dem ich im ersten Morgengrauen wie
gerädert erwachte. Noch bevor ich die Augen öffnete, war mir sofort
bewusst, dass dieser Flug keine Urlaubsreise war, sondern der erste
Schritt in ein neues, völlig ungewisses Leben. Angst kroch in mir
hoch und schnürte mir die Kehle. Ich schaute aus dem Flugzeugfenster
und sah zwischen weißen Wolkenfeldern im Morgengrauen eine dunkle
Landmasse, hin und wieder unterbrochen von bleifarbenen Fäden:
Urwald im Dämmerlicht des neuen Tages, durchzogen von
geheimnisvollen Flüssen. Südamerika! Tränen liefen mir über das
Gesicht, als ich meine Hand in die Hand meines Willis schob, der
neben mir döste.
„Ich
will heim“, murmelte ich.
„Wohin?“,
brummte er und schlief weiter.
Ja,
wohin?
Wir
hatten kein Heim mehr. Nur das Zelt, das für lange Zeit unser
Zuhause werden sollte. Nichts hatte uns gezwungen die biedere
Sicherheit aufzugeben, auf und davon zu gehen,
aus
unserem wohlgeordneten Dasein im schwäbischen Ländle auszubrechen
und fast am Ende der Welt,
im wilden Patagonien,
neu anzufangen.
Mit
einem kurzen Vorspiel in Brasilien.
Übernächtigt
und aufgeregt standen wir nach der Ankunft in Rio de Janeiro in einer
langen Menschenschlange vor der Zollabfertigung. Würde uns Jochen
tatsächlich abholen? Auf seine Anzeige in einer Zeitschrift hatten
wir vor Wochen ein Zimmer in seinem Gästehaus in Petrópolis
reserviert. Mit einem festen Händedruck hieß uns der kleine,
stämmige Mann willkommen und verstaute unser Gepäck in seinem
Wagen.
Alles
erschien mir so unwirklich an jenem Morgen: Der wolkenverhangene
Himmel über dem grauen Häusermeer der Randbezirke dieser
Millionenstadt; die fünf Geier und der aufgeblähte Hundekadaver
neben der Schnellstraße; unzählige Autobusse, die uns in
halsbrecherischen Manövern von allen Seiten bedrängten; an jeder
roten Ampel zerlumpte Gören, die sich ins Verkehrsgewühl stürzten,
für ein paar Münzen mit schmierigen Lappen eine Reinigung der
Windschutzscheibe andeuteten; unter jeder Überführung die
windschiefen Schlupfwinkel der Ärmsten aus Kartons, Brettern und
rostigen Blechen.
Schließlich
lag auch der letzte Lagerschuppen, die letzte Elendshütte dieser
Mammutstadt hinter uns, und der Wagen erklomm die rasch ansteigende
Landstraße. Dichter Wald überzog die Berghänge, die jäh
abstürzten in enge Schluchten. Nach oben verlor sich die Landschaft
im Nebel.
Unterwegs
hielten wir an und Jochen lud uns in einer Kneipe zu unserer ersten
Caipirinha ein. Das ist ein Getränk aus Zuckerrohrschnaps und
zerstampften Limetten mit viel Eis. Das hob unsere Lebensgeister.
Die
alte Kaiserstadt Petrópolis ist ein steiles Auf und Ab von Straßen
mitten in den Bergen. Die Temperaturen sind auch im Sommer recht
angenehm in dieser Höhe, und viele wohlhabende Cariocas (Einwohner
der Stadt Rio) haben hier ihren Sommersitz. Jochens Frau und die
beiden Kinder begrüßten uns wie alte Freunde, und weil gerade keine
Gäste da waren, durften wir uns unser Zimmer selber aussuchen.
Gleich nach der Ankunft hatte es zu regnen begonnen und seither auch
nicht eine Minute aufgehört. Wir saßen schon den dritten Tag auf
der Glasveranda und blätterten lustlos in alten Illustrierten oder
lagen fröstelnd unter der Bettdecke, starrten in den grauen Tag und
lauschten dem Regen. So hatten wir uns Brasilien nicht vorgestellt.
2
Auf
unserer Reise durch Patagonien hatten wir Julia und Antonio
kennengelernt. Als wir sie aus Petrópolis anriefen, luden sie uns
spontan für einige Tage zu sich ein. So zogen wir eine Woche später
aus den verregneten Bergen in das graue, diesige Rio de Janairo, wo
der Philosoph und Schriftsteller mit seiner temperamentvollen Frau
und einem fetten, trägen Kater das kleine, aber sehr feine Apartment
an der Copacabana bewohnte. Alle Fenster gingen auf einen Innenhof,
der von exotischen Pflanzen überwuchert war. Julias kleines
Paradies. Die Wohnung war das reinste Museum. Das weitgereiste Paar
hatte unzählige Kostbarkeiten aus aller Herren Länder
zusammengetragen, und beide wussten allerhand Historisches und
Prähistorisches aus den verschiedenen Regionen dieses Erdteils zu
berichten. Tausende von hervorragenden Fotos erzählten von ihren
Erlebnissen. Manchmal saßen wir abends stundenlang über Fotoalben
gebeugt und doch war es nur ein kleiner Teil dessen, was noch in den
Regalen stand.
Tagsüber
streiften wir durch „die schönste Stadt der Welt“, wie es in
unserem Reiseführer hieß, die sich uns mit ihren Reizen und
Widerlichkeiten als zwiespältiges Ungeheuer
darstellte. Die freundliche Dame im Büro der Touristeninformation,
mit der wir in Englisch und Spanisch radebrechten, empfahl uns, unter
anderem den Besuch des Künstlerviertels Santa Tereza, das an einem
der vielen Hänge Rios über der Guanabarra- Bucht liegt. Wir sollten
für unseren Ausflug die antike Straßenbahn benutzen.
„Aber
bitte, steigen Sie auf keinen Fall unterwegs aus“, schärfte sie
uns ganz eindringlich mehrmals ein. „Nehmen Sie für die Rückfahrt
die gleiche Bahn. Sie hat an der Endstation mehrere Minuten
Aufenthalt. Währenddessen können Sie die Aussicht genießen, aber
bleiben sie auf keinen Fall allein dort oben.“
Eine
halbe Stunde später quetschten wir uns auf eine Holzbank im
vollbesetzten Bähnchen, das sich kurz darauf quietschend und
kreischend durch malerische Straßen den Berg hinan wand. Bis auf das
Dach, das die Fahrgäste vor Sonne und Regen schützen sollte, war
das pittoreske Gefährt offen. Trotz des trüben, kühlen Tages war
die Fahrt mit Ausblick auf die Stadt und die Bucht großartig. Doch
schnell wurde das Vergnügen zum Alptraum.
In
einer Kurve, als die Bahn nur noch in Schrittgeschwindigkeit fuhr,
sprangen drei Burschen auf den Wagen. Sofort riss einer der Rowdys
einem Fahrgast die Mütze vom Kopf und schleuderte sie in hohem Bogen
in einen Vorgarten. Lautstark beschimpften und bespuckten die Drei
sich gegenseitig über die Köpfe der Fahrgäste hinweg, um sich dann
in wilder Jagd zu verfolgen. Behände balancierten sie auf den
Trittbrettern, sprangen auf den Lehnen der Bänke kreuz und quer
durch den Waggon und schwangen die drahtigen Leiber um das Gestänge
des Wagens. Plötzlich hielten sie inne und belauerten sich. Einer
stand breitbeinig hinter mir auf der Rücklehne, seine Füße rechts
und links neben meinem Kopf. Ich war vor Schreck ganz starr. Kein
Mensch im Wagen rührte sich, alle schienen wie versteinert. Ich
konnte das gar nicht verstehen. Warum sagte oder tat denn keiner was?
Warum hielt denn der Fahrer nicht an? Und wenn der Bursche mir jetzt
einen Fußtritt gab?
„Ich
hau dem Kerl gleich eine rein, wenn das nicht aufhört“, knurrte
mein Willi.
Das
gab mir den Rest.
„Halt
die Klappe“, zischte ich.
Wenn
wir nur schon wieder in der Stadt unten wären! Ich tat so, als würde
ich die Umgebung betrachten, durch die wir fuhren. Nur nichts
anmerken lassen. Dabei sah man mir meine Angst sicher an der
Nasenspitze an. Unvermittelt nahmen die drei ihre Verfolgungsjagd
wieder auf, rasten wie irrsinnig um uns und über uns hinweg. Auf
einmal war der Spuk vorbei. In einer Kurve sprangen sie ab und
verschwanden in einem der Gässchen. Noch immer rührte sich keiner.
Das Ganze mochte nur eine oder zwei Minuten gedauert haben, aber mir
schien es eine Ewigkeit.
Den
Rest der Fahrt hatte ich keinen Blick mehr für die Schönheiten der
Umgebung. An der Endhaltestelle stiegen wir aus, um bis zur Rückfahrt
das Panorama von der Aussichtsplattform zu betrachten. Anstatt ins
Tal und über die umliegenden Hügel zu blicken, ließ ich kein Auge
von der Straßenbahn.
„Wenn
wir doch schon wieder unten in der Stadt wären“, wiederholte ich
immer wieder, bis mein Willi mich ärgerlich anfuhr:
„Stell
dich doch nicht so an. Es ist ja nichts passiert.“
Ich
wusste, dass auch er Angst hatte.
„In
dieser Stadt werden täglich Banken überfallen, Menschen ausgeraubt
und umgebracht. Wir gehen schon lange abends nicht mehr aus dem
Haus“, sagte Antonio abends, als wir ihm von unserem Ausflug
erzählten.
„Früher
gingen
wir regelmäßig in die Oper und ins Konzert. Heute sitzen wir vor
dem Fernseher. Das ist sicherer.“
3
Unseren
Abschied von Rio nahmen wir auf dem Zuckerhut. Mit der Seilbahn
fuhren wir am letzten Abend hinauf. Nach einem diesigen
Tag hatte sich der Himmel aufgeklart und das Abendrot übergoss den
Himmel und die Stadt. Schatten krochen in die Häuserschluchten,
dehnten sich aus und verschlangen Farben und Formen. Erste Lichter
blinkten auf. Schnell stieg die Nacht aus dem Atlantik und umhüllte
das Land
mit einem kühlen Hauch. Prächtig erstrahlte im Neonglanz das
Häusermeer
und die
Lichterketten der Strandpromenaden
von
Leblon bis zur Copacabana. Zu unseren Füßen schimmerte der Strand
von Botafogo, dümpelten die Boote im Jachthafen. Weiter draußen,
auf dem nachtschwarzen Wasser der Bucht glimmten wie Glühwürmchen
die Positionslichter der Schiffe. Kühn schwang sich die Brücke
durch das Dunkel hinüber nach Niterói. Über allem breitete im
Scheinwerferlicht weithin sichtbar Christus auf dem Corcovado seine
Arme aus. Fassungslos oder segnend, hilflos oder beschützend?
Mein
Willi und ich standen sehr lange schweigend beieinander und ließen
die Bilder auf uns wirken. Diese Stadt, die auf Grund ihrer
landschaftlichen Lage mit zu den schönsten der Welt zählt:
Was
barg sie alles in ihren Eingeweiden? In einer Woche hast du nicht
einmal ihre Haut kennengelernt. Wir hatten die Schätze in ihren
Museen und den kostbaren Auslagen der Geschäfte an der Copacabana
bewundert; den Hauch des Zerfalls wahrgenommen, im immer noch schönen
Botanischen Garten; die prunkvollen historischen Bauwerke
besichtigt; die Augen vor Entsetzen abgewandt, angesichts offener
Kinderprostitution; mit hilfloser Betroffenheit sind wir den
zahllosen, zerlumpten Bettlern ausgewichen, jeden Augenblick
ängstlich besorgt um unsere persönliche Sicherheit. Obwohl wir in
Jochen einen echten Freund und in Julia und Antonio aufmerksame
Gastgeber gefunden hatten, fiel uns der Abschied leicht, als wir nach
Norden aufbrachen, auf der Suche nach Palmenstränden unter
tropischer Sonne. Wir waren wurzellos geworden. Die Ungewissheit
unserer Zukunft machte uns rastlos und unfähig, die menschliche
Wärme, die uns so großzügig zuteil geworden war, wirklich in uns
aufzunehmen.
An
dieser Stelle sei Jochen herzlich gedankt, dass wir unser Geld in
seinem Safe und den Großteil unseres Gepäcks in seinem Schlafzimmer
lassen durften, während wir fast drei Monate in Brasilien
herumreisten.
4
Mein
Willi schlief, den Kopf an meiner Schulter.
Ich
starrte
hinaus
in die fremde Dunkelheit, in welche die Scheinwerfer des Busses
Löcher rissen, die sich füllten mit dem Gras und Kraut, das am
Straßenrand wucherte. Büsche und Bäume erschienen aus dem Nichts,
flogen wie Schemen vorbei und verschwanden im Nichts. Manchmal
streifte der Lichtfinger über große Felder und verlor sich in der
Finsternis. Der Bus fuhr sehr langsam auf der Betonpiste und wich
alle paar Meter riesigen Schlaglöchern aus. Nur vereinzelt
begegneten wir im Laufe der Nacht entgegenkommenden Autos. Oft sah
man auf lange Strecken kein einziges Licht im weiten Umkreis.
Auf
unseren Urlaubsreisen oder Wochenend-Wanderungen habe ich eine gute
Portion Ungewissheit sehr geliebt. Wie anders war das jetzt, wo wir
kein Zuhause mehr hatten, in das wir nach weiter Reise zurückkehren
konnten. Schaute ich nach hinten, war nichts als Erinnerung
geblieben, schaute ich nach vorn, war nichts als Ungewissheit. Ich
erschauerte innerlich. Würden wir dem allem gewachsen sein? Ich
versuchte in meinem Inneren Ordnung zu schaffen, nicht so weiträumig
zu denken. Für uns gab es nur das Hier und Jetzt.
Was
wir als allererstes brauchten: Einen
Campingplatz, an
einem weißen Sandstrand. Dort würden wir im Schatten der Palmen
unsere Bleibe einrichten. Unser heimischer Herd würden die
sorgfältig von meinem Willi aufgeschichteten Steine einer
Feuerstelle sein. Inzwischen war uns klar, dass wir mit den 1700
Mark, die uns für
die nächsten 10 Wochen zur
Verfügung standen, niemals auch nur einigermaßen bequem über die
Runden kommen konnten. Trotzdem glaubte ich noch immer, dass es auf
dem Land möglich sei, billig Fisch zu bekommen, frisch
aus dem Netz des Fischers, und dass exotische Früchte in Hülle und
Fülle überall zu haben wären. Das Bad im lauen Meer war ohnehin
gratis. Unser schmaler Geldbeutel erlaubte uns keine weite Reise, um
die Sonne zu finden. Wir ahnten nicht, dass eine Strecke so weit wie
von Norddeutschland nach Südfrankreich vor uns lag, und wir trotzdem
weder die Sonne noch den geträumten Palmenstrand finden würden.
Janusz Leszczynski, „Paradise - Please Enter“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Bild stammt aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de |
Bei
unserer Planung war uns niemals in den Sinn gekommen, dass es im
südlichen Teil Brasiliens im Winter zum Zelten zu kalt und
unwirtlich sein könnte, und auch nördlich von Rio die meisten
Campingplätze nur in der Sommersaison geöffnet haben. Gewöhnlich
liegen sie so abseits, dass man ein Auto gebraucht hätte, um sie zu
erreichen.
Ach,
alles war so ganz anders, als wir es uns vorgestellt hatten. Meine
Gedanken wanderten ein paar Tage zurück:
Wir
suchten
in
Rio das Büro des „Camping-Club do Brasil“ auf, um uns einen
Campingführer zu beschaffen. Dabei erfuhren wir, dass jede
Übernachtung 34 DM kosten
würde.
„Für
Mitglieder ist das natürlich wesentlich billiger“, sagte der
rassige, dunkeläugige, sehr gepflegte Schönling hinter der Theke.
Na,
dann werden wir halt Mitglied. Er schob uns ein Formular her. Fast
fallen uns die Augen aus dem Kopf. Der Jahresbeitrag: 1500 DM. Das
muss ein Druckfehler sein! Oder verhedderten wir uns zwischen den
vielen Nullen? Ich ging beiseite, starrte aus dem elften Stockwerk
hinab auf die Straße. Was sollte aus uns werden? Wie sollte es
weitergehen? Wir zerrissen das Formular und gingen.
Nachdem
wir eine Weile ratlos in einer schäbigen, lauten Kneipe einen großen
Fingerhut voll Kaffee getrunken hatten, beschlossen wir, zum
Jugendherbergsverein zu gehen. Nach einer stundenlangen Irrfahrt
hielten wir am späten Nachmittag einen Jugendherbergsausweis und ein
Verzeichnis aller Herbergen in Brasilien in den Händen und waren um
50 DM ärmer. Abends klärte uns Antonio darüber auf, dass es auch
Campingplätze gäbe, die nicht dem Club angeschlossen seien. Dort
sei das zelten viel, viel billiger. Campingurlaub sei nicht sehr
populär und eigentlich ein Privileg der Reichen.
Irgendwann
sind mir in dieser Nacht
im Bus,
trotz aller Grübeleien, die Augen zugefallen. Ich erwachte erst am
frühen Morgen, als wir
in einen Busbahnhof einfuhren.
5
Steifbeinig
stiegen wir nach der langen Fahrt aus und nahmen unser Gepäck in
Empfang. Jeder schulterte seinen Rucksack, ich nahm den Packen mit
unseren ISO-Matten, und mein Willi griff nach dem Matchsack mit dem
Handgepäck. Wir traten hinaus auf die Straße. Die Sonne schien und
es wehte eine leise Brise. Es versprach ein herrlicher Tag zu werden.
Wir hatten in unserem Campingführer ungefähr 15 km von hier einen
Campingplatz entdeckt, der zwar ein paar hundert Meter vom Meer
entfernt, aber dafür durch regelmäßige Busverbindungen gut zu
erreichen war.
„Sollten
wir nicht erst einmal etwas frühstücken?“ schlug mein Willi vor.
„Die
Läden sind so früh noch gar nicht geöffnet. Lass uns lieber jetzt
gleich zum Campingplatz fahren, das Zelt aufstellen und dann kommen
wir in Ruhe zurück, essen, kaufen ein und schauen uns die Stadt an.“
Mein
Willi sträubte sich ganz unvernünftig gegen meinen vernünftigen
Vorschlag; ihm knurrte der Magen. Als er aber erfuhr, dass der
nächste Bus erst in drei Stunden fahre, gab er sich geschlagen.
„Dafür
esse ich nachher das Vierfache“, kündigte er an.
Wir
waren voller Optimismus an jenem Morgen. Als der Bus die Stadt in
Richtung Süden verließ, zeigten wir dem Fahrer in unserem
Reiseführer die Adresse des Campingplatzes. Er schaute uns fragend
an, nickte dann aber und bedeutete, dass er uns Bescheid geben wolle.
Ich war etwas enttäuscht von der Landschaft. Leicht gewellt und
sandig, mit niedrigen Büschen karg bewachsen, zog sich das Gelände
rechts und links der Straße Kilometer um Kilometer eintönig dahin.
Das Meer erahnte man am dunstigen Horizont im Osten. Irgendwo wurde
diese Eintönigkeit unterbrochen von einer riesigen, schwarzen
Rauchsäule, die in den hellen Morgenhimmel empor quoll. Genau dort
hielt der Bus, und der Fahrer bedeutete uns, dass wir am Ziel waren.
Ein
schmaler Feldweg führte zu einem Grundstück, wo Reifen lagerten.
Der stinkende Rauch stammte von einem riesigen, schwelenden Haufen
Gummiabfall. Ein Stück weiter verschloss ein Eisentor die Zufahrt zu
einer kurzen Palmenallee, an deren Ende ein langgestrecktes, weißes
Gebäude lag. Darum herum war ein großes, sandiges Gelände ohne
Bäume, ohne Sträucher. Ein Blick von der Straße aus hatte uns
genügt, um zweierlei festzustellen: Erstens, war der Campingplatz
nicht geöffnet. Kein Mensch war zu sehen. Zweitens, wären wir um
keinen Preis der Welt auch nur einen Tag hier geblieben. Wortlos
schauten wir uns an, schulterten das Gepäck und brachten es auf die
andere Straßenseite.
„Mit
dem nächsten Bus fahren wir zurück“, sagte mein Willi.
Schweigend
starrten wir die schnurgerade Landstraße entlang. Wir standen sicher
schon eine halbe Stunde, als das erste Auto vorbeiflitzte.
Wir versuchten es anzuhalten, aber der Fahrer gönnte uns nicht
einmal einen Blick. Wir schauten uns kurz an und zuckten die
Schultern. Etwas später tauchte in der Ferne endlich ein Bus auf.
Wir atmeten auf, schulterten das Gepäck und stellten uns breitbeinig
auf die Straße, um ihn anzuhalten. Mit ohrenbetäubendem Hupen
preschte er an uns vorbei. Wir schauten uns bestürzt an.
„Und
nun?“ sagten wir wie aus einem Mund.
„Viel
Verkehr ist hier nicht“, stellte mein Willi scharfsinnig fest, als
nach weiteren zwanzig Minuten ein Auto aus der Gegenrichtung
vorbeifuhr.
Die
Sonne brannte inzwischen recht heiß auf uns nieder. Ich hatte
Hunger, Durst, war müde und bedrückt. Mein Willi starrte bärbeißig
vor sich hin. Was sollte jetzt mit uns werden? Wo sollten wir hin?
Wir
warteten schon fast zwei Stunden, als wieder ein Bus in der Ferne
auftauchte. Mein Willi war zu allem entschlossen. Er stellte unser
Gepäck mitten auf die Straße, pflanzte sich, die Hände in die
Hüften gestützt, breitbeinig dahinter auf und sah dem Vehikel
grimmig entgegen.
„Den
mach ich ungekocht fertig, wenn er nicht anhält“, stieß er wütend
hervor.
„In
dem Fall wirst du dazu wohl kaum Gelegenheit finden. Pass lieber auf,
dass er dich nicht überfährt.“
Es
war der gleiche Bus, mit dem wir hergekommen waren. Der Fahrer
grinste freundlich, half uns, das Gepäck zu verstauen, dann ließen
wir uns aufatmend in die Sitze fallen. Mein Willi befragte seine
Landkarte und den Reiseführer und kam zu dem Schluss, dass uns
nichts anderes übrig blieb, als die Reise nach Norden fortzusetzen.
„Jetzt
frühstücken wir erst mal und dann fahren wir nach Porto Seguro“,
sagte mein Willi, als wir vor dem Busbahnhof ausstiegen.
„Sollten
wir nicht vorsichtshalber erst schauen, wann ein Bus fährt und dann
erst etwas essen?“ entgegnete ich.
Sehr
unwillig folgte mir mein halb verhungerter Willi, als ich, ohne seine
Antwort abzuwarten, schnurstracks zum Informationsschalter spurtete.
„Das
darf doch nicht wahr sein! Der einzige Bus fuhr heute Morgen, als wir
aus Rio angekommen sind. Wären wir nicht zu diesem schrecklichen
Campingplatz gefahren...“ stöhnte mein Willi und feuerte das
Gepäck auf eine Bank.
Nach
kurzem hin und her begriff ich, dass der Mann am Schalter uns riet,
den Bus, der in 10 Minuten nach Eunapolis abfuhr, zu nehmen. Wir
könnten dann dort, mit ein wenig Glück, abends noch einen Anschluss
bekommen nach Porto Seguro. Mein Willi rannte los, um etwas Essbares
aufzutreiben; immerhin waren seit unserer letzten Mahlzeit vierzehn
Stunden vergangen, und vor dem späten Abend würden wir nicht am
Ziel sein.
Atemlos
stürmte mein Willi im letzten Augenblick vor der Abfahrt des Busses
durch die Halle. Er hielt zwei braune Papiertüten in der einen und
eine Flasche Mineralwasser in der anderen Hand. Kaum saßen wir auf
unseren Plätzen, waren wir auch schon unterwegs. Mein abgehetzter
Willi nahm zuerst einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Danach
erzählte er, immer noch ein wenig atemlos und mit Schweißtröpfchen
auf der Stirn, dass er durch die Straßen gerannt sei und zuerst
keine Bäckerei gefunden habe. Schließlich habe er dann eine Frau
nach pao
gefragt
und sie habe ihm den Weg gewiesen.
„Bis
auf diesen einen Laib Brot war alles ausverkauft“, sagte er und zog
ein kleines, sehr dunkel gebackenes Brot aus der Tüte. „Auf der
Straße kam ich an einem Stand mit ganz großen Bananen vorbei und
ich brachte gleich drei Kilo. Mehr konnte ich in der kurzen Zeit
nicht ergattern“, schloss er seinen Bericht.
Es
waren wirklich große, dicke Bananen.
„Noch
etwas grün, die Dinger“, wagte ich zögernd festzustellen.
„Jetzt
iss und sei still. Es gab keine anderen“, sagte mein Willi und hieb
seine Zähne in einen großen Kanten Brot.
Ich
schälte mir eine Banane und biss hinein. Sie war hart und pelzig,
zum rohen Genuss völlig ungeeignet. Später erfuhren wir, dass mit
dieser Sorte Kochbananen wirklich leckere Gerichte hergestellt
werden. So kam es, dass wir uns trockenes
Brot und Mineralwasser teilten. Die Tüte mit den großen, dicken
Bananen landete im Gepäcknetz und wenn sie nicht irgendeiner
mitgenommen hat, dann liegen sie dort noch heute.
Wir
saßen einen heißen Tag lang im Bus. Erst nach Einbruch der
Dunkelheit kamen wir in Eunapolis an, gerade als der letzte Bus nach
Puerto Seguro den Busterminal verlassen wollte. Wir waren nicht die
einzigen, die aus dem Bus drängelten, aber sicher die
schüchternsten. Nur den anderen Dränglern verdankten wir, dass der
abfahrende Bus noch einmal anhielt, nachdem sie lautstark auf sich
aufmerksam gemacht hatten. Zwei Stunden lang standen wir eingekeilt
zwischen schwitzenden Leibern schweigender Menschen, während der Bus
die Dunkelheit durchpflügte. Ich zitterte vor Müdigkeit und
Aufregung. Würden wir so spät im unbekannten Ort eine Unterkunft
finden?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen