4. Kapitel

Berit, „Beach, Barbados“, CC-Lizenz (BY 2.0)
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1



Die Nacht war lau, als wir in Porto Seguro ankamen. Silbern ergoss sich das Mondlicht über die Bucht; reglos ragten die Silhouetten der Palmen in den Nachthimmel. Die Straßen mit den bunt getünchten Häusern träumten im Laternenschein. 
Porto Seguro bedeutet "sicherer Hafen". Hier nahm der Portugiese Pedro A. Cabral im Jahre 1500 das kurz zuvor entdeckte Land für den König von Portugal in Besitz. 

In der Jugendherberge bekamen wir ein Zimmer für uns allein. Todmüde sank ich auf das Bett und konnte doch nicht einschlafen. An der Zimmerdecke lauerten, wie versteinert, zwei fette Geckos. Ihre Gesellschaft war für mich äußerst gewöhnungsbedürftig. Die Wände, die Bettgestelle, der Stuhl, alles war mit einer feinen Schimmelschicht überzogen. Kein Wunder bei der hohen Luftfeuchtigkeit. Fenster gab es nicht, trotzdem bevölkerte ein Heer blutrünstiger Stechmücken den Raum. Zum Schutz vor diesen Plagegeistern schlüpfte ich, ungeachtet der stickigen Hitze, in den Schlafanzug und zog mir das Bettlaken bis über den Kopf. Da lag ich schweißgebadet und redete mir ein, dass mich der allgegenwärtige Modergeruch überhaupt nicht ekelt und die Geckos niemals einen Fuß in meine Nähe setzen würden.

Mitten in der Nacht erlebten wir unseren ersten Tropenregen. Erschrocken sprang mein Willi aus dem Bett.

„Was ist denn jetzt los?“

Mein Herz schlug bis zum Hals. Wie Trommelfeuer tobte der Wolkenbruch auf das Blechdach. Zunächst erkannten wir das Dröhnen, Rauschen und Gurgeln gar nicht als Regen. Ingrid, eine Reisebekanntschaft, hatte uns davon erzählt:

„Du sitzt mit einem eisgekühlten zuco (Fruchtsaft) auf der Terrasse des Hotels und blätterst in deinem Reiseführer. Plötzlich erfüllt ein Brausen die Luft, das blitzschnell anschwillt und noch ehe du dein Buch zuschlagen kannst, bist du schon nass bis auf die Haut.“

So ähnlich erlebten wir dies am anderen Morgen. Eben traten wir aus einer Bäckerei, das ofenwarme, knusprige Brot unter den Arm geklemmt, als plötzlich alle Leute auf der Straße losrannten und in Hauseingängen, Geschäften oder Einfahrten verschwanden. Einen Augenblick später lag die Straße wie ausgestorben da. Verblüfft schauten wir uns um. Was war geschehen? Schon fiel das Wasser vom Himmel, durchnässte im Nu unsere dünnen Kleider und weichte das Brot auf. So lernten wir, auf das Brausen in der Luft zu achten und loszulaufen, wenn alle liefen, zum nächstbesten Unterstand.

Die Anschaffung von Badeschlappen, wie sie die einfache Bevölkerung meist trug, war unumgänglich, denn nach einem Regenguss stand das Wasser in den Pfützen oft knöcheltief. Das hätte unser städtisches Schuhwerk nicht lange mitgemacht. Es wanderte zuunterst in den Rucksack.
 
2



Es regnete fast ohne Unterlass den ganzen Tag und die darauffolgende Nacht. Am anderen Morgen strahlte die Sonne. „Heute ziehen wir um, auf den Campingplatz“, sagte mein Willi beim Frühstück.

„Unbedingt“, stimmte ich ihm zu. “Noch eine Nacht mit den Geckos, dem Schimmel und den Moskitos überlebe ich nicht.“

Wir zogen mit Sack und Pack auf einen Zeltplatz, der dem geträumten recht nahe kam. Wir waren die einzigen Gäste. Lange überlegten wir, unter welcher Palme wir lagern wollten. Mein Willi bearbeitete ausgiebig seine Nasenwurzel. Ja, wer die Wahl hat, hat die Qual.

Ein dunkelhäutiger, drahtiger Bursche, der die Wege harkte, verblüffte uns mit seinen Kletterkünsten, als er, ruck zuck, den unendlich hohen Stamm einer Kokospalme hinauf, in luftiger Höhe verschwand. Unverzüglich fielen ein paar der riesigen Früchte herab und landeten mit dumpfem Aufschlag nur wenige Meter entfernt auf dem sandigen Boden. Das gab den Ausschlag, dass wir lieber nicht direkt unter einer Palme kampierten.

„So ein Ding erschlägt dich ja glatt“, sagte mein Willi. „Dabei sieht das immer so paradiesisch aus, wenn auf den Fotos ein fast nacktes girl an einem weißen Strand unter Palmen liegt. Wer dächte da an die potentielle Gefahr, in der sie schwebt?“

Mit strahlender Miene überreichte der Klettermaxe uns zwei Kokosnüsse. Wir strahlten zurück und versuchten, sie mit dem Taschenmesser zu öffnen. Ein absolut unmögliches Unterfangen. Der Bursche hatte uns indessen beobachtet und sich wahrscheinlich köstlich amüsiert über unsere Versuche. Er kam herüber, hieb den beiden riesigen Nüssen mit einem Haumesser die Kappe ab und bedeutete uns, zu trinken. Der kühle, süßliche Saft schmeckte erfrischend.


3



Abends gingen wir aus. Ich kramte einen Lippenstift aus den Tiefen des Rucksacks hervor und gönnte mir einen Tropfen meines Lieblingsparfüms, von dem ich noch schätzungsweise fünf Tropfen besaß. Trotz seiner etwas angeschmutzten Leinenhose und dem verwaschenen T-Shirt, sah mein Willi aus, wie ein junger Gott. Groß, sportlich, schlank, blond, blauäugig, braun gebrannt, der Traum einer jeden Brasilianerin. Bloß gut, dass ihm auf der knallroten Nase die Haut in Fetzen abging, das machte ihn für uns normal Sterbliche nicht ganz unerreichbar.

Wir gingen in die Lambadería. Das ist ein überdachter Bretterboden am Strand, wo jede Nacht bis zum Morgengrauen alt und jung die Hüften schwingt im mitreißenden Rhythmus des Lambada. Porto Seguro, so sagte man uns, sei die Wiege dieses Tanzes, der von hier aus seinen Siegeszug antrat. Schade, dass meine alte Tante Rosine jetzt nicht dabei war. Sie schwärmte mit leuchtenden Augen vom Lambada, als er gerade im Radio und Fernsehen seinen Einzug hielt, während ich immer noch dachte, es handle sich um einen exotischen Drink.

Männer in hautengen Hosen, die Oberkörper nackt oder kaum bedeckt, ließen unter schweißglänzender, dunkler Haut die Muskeln in geschmeidigen Bewegungen spielen. Stramme Mädchenbeine wirbelten in akrobatischen Tanzfiguren über den Bretterboden. Die Miniröckchen flogen bei jeder Drehung und gaben den Blick großzügig frei auf wohlgeformte Popos in Stringtangas. Hin und wieder brachte eine Brise, zart wie ein Hauch, den Geruch nach Salz und Tang vom Meer herauf. Die halbe Nacht schlugen wir uns hier um die Ohren, ganz im Bann des hitzigen, fremdartigen Ambientes.

Als wir am Strand entlang zum Campingplatz schlenderten, waren wir uns einig: Wir werden die kommenden Monate hier bleiben und Lambada tanzen lernen.

„Na, unbedingt“, sagte mein Willi und sah sich schon als Hahn im Korb unter all den knackigen, kaffeebraunen Schönen.

Unsere Freude dauerte nur kurz. Gut, dass wir in jener lauen Sternennacht, als wir noch eine Weile aneinander gelehnt im Sand saßen und der Brandung lauschten, nicht ahnten, dass unsere Odyssee nach Norden nicht zu Ende war. Wir freuten uns, dass wir für die kommenden Wochen so ein schönes Plätzchen gefunden hatten.


4


Gegen Morgen ging ein so schwerer Regen nieder, dass ich fürchtete, die Flut würde das Zelt zertrümmern. Es war als stünden wir unter einem Wasserfall. Um uns bei dem Lärm zu verständigen, mussten wir uns regelrecht anschreien. An vielen Stellen schlugen die Tropfen einfach durch die Zeltwand. Das Wasser lief die Innenwände hinab und bildete kleine Pfützen, die schnell größer wurden.

„Bloß gut, dass wir die Schlafsäcke nicht ausgepackt haben“, rief mein Willi aufgeregt.

Hastig stopften wir alles, was im Zelt herum lag, in Plastiktüten. Inzwischen hatte sich ein Sturm erhoben und rüttelte zornig an unserer kleinen Heimstatt, schlug seine Fäuste blindwütig in die hauchdünnen Wände und krümmte das Gestänge.

„Mach doch was, Willi! Geh doch raus und mach was!“

„Raus? Du spinnst wohl!“

„Die Regenmäntel. Wir müssen irgendwie die Regenmäntel zwischen Innenzelt und Außenzelt ziehen, dass wenigstens kein Regen mehr durchkommt. Dazu müssen wir raus!“ schrie ich gegen den Lärm an.

„Raus? Du bist wohl nicht bei Trost!“ schrie mein Willi zurück.

„Wir müssen!“ Ich wühlte in den Rucksäcken nach den Regencapes.

„Raus? Bist du übergeschnappt?“

„Hier, zieh deine Badehose an.“

„Badehose? Du träumst wohl! Es ist kalt!“

„Was meinst du, wie dir erst kalt sein wird, wenn alles nass ist.“ Allmählich wurde ich wütend. „Schluss jetzt! Wir gehen raus und machen das."

„Raus? Du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!“ brüllte mein Willi ganz außer sich und zog die Badehose an.

Als wir den Reißverschluss des Zeltes öffneten, kamen wahre Sturzbäche herein. Hastig krochen wir hinaus und machten schnell hinter uns zu. Von der lauen Nacht war nichts mehr zu spüren. Kalt peitschte der Regen unsere nackte Haut. Im trüben Schein der spärlichen Platzbeleuchtung sahen wir, dass unser Zelt wie auf einer kleinen Insel stand, umgeben von Wasser. Welch weiser Entschluss, das Zelt gerade hier und nicht einen Meter daneben, aufgestellt zu haben. Die Sturmböen zerrten wutschnaubend an Büschen und Sträuchern, heulten in den zerzausten Wuschelköpfen der Palmen, schlugen uns den Regen ins Gesicht, so dass wir fast nichts sehen konnten. Die Regencapes flatterten und knatterten; nur mit Mühe konnten wir sie bändigen. Es schien eine Ewigkeit vergangen, als wir sie endlich auf das Dach des Innenzeltes gebreitet hatten.

Danach saßen wir frierend und mit triefend nassen Haaren auf unseren Matten und warteten schweigend auf den Tagesanbruch. Besorgt tasteten wir immer wieder die Wände und das Dach ab.

„Es war gut, dass wir raus sind“, sagte mein Willi nach langer Zeit selbstgefällig. „Das Dach ist dicht.“

„Hoffentlich regnet es nicht lange. Wir können ja nicht einmal den Zelteingang öffnen, ohne dass gleich ganze Sturzbäche hereinkommen“, sagte ich besorgt.

„Ach, in den Tropen regnet es täglich, aber es scheint auch sofort wieder die Sonne“, gab mein Willi fachkundig zu besten. „Du wirst schon sehen.“

Aber nicht in der Regenzeit.
Foto: HTL
5



Als es mittags immer noch kräftig regnete, wenn auch längst nicht mehr so, wie in der Nacht, sagte mein Willi:

„Wenn ich auch nur eine Sekunde länger auf diesen 2,7 Quadratmetern aushalten muss, schlage ich alles kurz und klein. Ich gehe einen cafezinho trinken.“

Ich war dagegen. „Wo wir eh kein Geld haben, werden wir ausgerechnet Kaffee trinken gehen.“

„Als wenn es darauf ankäme“, knurrte er und ging davon.

Gekränkt blieb ich im grünen Dämmerlicht meiner Nylonhöhle zurück, lauschte auf den Regen und auf die Geräusche, die von draußen hereinkamen. Mich quälte eine unbändige Zukunftsangst.

Später kam mein Willi mit dem Platzwart, der irgendwoher eine stabile, schwarze Plastikplane aufgetrieben hatte, die sie nun über das Zelt breiteten, mit Schnüren befestigten und über ein paar Stecken eine Art Vorzelt fabrizierten. Jetzt war es völlig dunkel im Zeltinneren, aber immerhin konnten wir den Eingang öffnen, ohne nass zu werden. In den wenigen kurzen Regenpausen erledigte ich meine dringenden Bedürfnisse, und nahm eine kalte Dusche. Warmes Wasser gab es nämlich nicht. Meine Haare waren immer noch feucht und meine Kleider klamm. Ich fror.

Mein Willi verbrachte den Rest des Tages in der Kneipe des Campingplatzes. Er kam nur, um mit mir zu essen. Wir hatten einen Rest Brot und eine Dose Thunfisch, die wir uns teilten.

„Komm doch mit rüber“, sagte er, als er sich wieder Richtung Kneipe aufmachte. „Das hält doch kein Mensch aus, den ganzen Tag im Zelt liegen und hinaus in den Regen starren.“

„Ich schon“, entgegnete ich schnippisch. „Es reicht, wenn du das Geld verpulverst. Findest du nicht?“

Dann war es wieder Nacht, und es kübelte erneut stundenlang. Immer noch waren meine Haare feucht, und die Körperwärme hatte die klammen Kleider nicht zu trocknen vermocht. Ich schlief kaum. Der Rücken tat mir weh vom langen Liegen und tausend Gedanken tummelten sich in meinem Kopf.

„Wir haben nichts mehr zu essen“, teilte ich meinem Willi am nächsten Morgen mit, nachdem ich einen Blick in unseren Vorratsbeutel geworfen hatte.

„Das ist allerdings schwerwiegend“, fand er. „Da werde ich sofort ins Dorf müssen.“

Eine Stunde später war er freudestrahlend wieder da.

„Ich habe Glück gehabt und bin überhaupt nicht nass geworden“, sagte er. „Der Platzwart fuhr gerade weg und hat mich mitgenommen und auch wieder hergebracht. Schau, was ich Leckeres mitgebracht habe

Mit diesen Worten packte er einen Berg Brot aus, eine Papaya groß wie ein neugeborenes Baby und ein dickes Paket, eingewickelt in braunes Papier.

„Gekochter Schinken“, sagte er strahlend. „Ein ganzes Kilo. Den isst du doch so gern, mein Gelimädchen.“

„Ist das nicht ein bisschen teuer?“ fragte ich vorsichtig.

„War im Angebot. Deshalb habe ich ja auch gleich ordentlich Vorrat mitgebracht. Wenn wir schon im Regen hocken, sollen wir wenigstens nicht verhungern.“

Ich sagte nichts dazu. Er würde es bald selber merken, dass uns der Vorrat ohne Kühlschrank wenig nützte. Enttäuscht warf er am anderen Morgen über ein Pfund stinkenden Schinken in den Abfalleimer.



6



Es regnete den dritten Tag. Wenn wir nicht gerade schliefen, saßen wir in der Kneipe und schauten uns das Fernsehprogramm an. Der Wirt hatte es längst aufgegeben, uns nach unseren Wünschen zu fragen. Er hatte wohl begriffen, dass diese beiden Gringos keinen Groschen übrig hatten. Obwohl wir so schlechte Gäste waren, behandelte er uns liebenswürdig.

Mit viel Geduld versuchte er, uns allerlei aus seinem Leben zu erzählen. Mit viel Geduld hörten wir ihm zu und verstanden kein Wort. Schließlich gelang es ihm, uns klar zu machen, dass wir besser in ein Hotel gehen oder weiter nach Norden reisen sollten. Irgendwo im Norden regnet es kaum. Wo, das konnte er uns auch nicht sagen. Brasilien ist groß.

Am nächsten Mittag kam plötzlich die Sonne heraus. Sofort war es warm. Sollten wir bleiben und hoffen, dass das Wetter sich einigermaßen hielt? Wir hatten bis jetzt kaum etwas vom Ort und seiner Umgebung gesehen. Und was war mit dem Lambada? Mit unserer Reisekasse? Der Wirt riet uns eindringlich, zu gehen. Er half sogar, unsere Siebensachen zu packen, nachdem die Sonne die Zeltplanen leidlich getrocknet hatte. Zum Abschied lud er uns zu einem zuco ein. Das ist ein Getränk aus frischen Früchten mit vielen Eiswürfeln gemixt. Wir hatten es bisher nirgends getrunken, eben wegen den Eiswürfeln.

Bevor wir aus Deutschland aufgebrochen waren, hatten wir uns ausführlich mit unserer Hausärztin unterhalten, nachdem uns das Tropeninstitut eine lange Liste der verschiedensten Impfungen für Brasilien empfohlen hatte. Ich, als Heilpraktikerin, war einerseits nicht sehr angetan von der Aussicht, meinen Körper mit all dem vielen Gift zu belasten. Andererseits war ich nicht fachkundig genug, um eine Entscheidung zu treffen. Unsere Ärztin, eine hervorragende Homöopathin, riet uns von den Impfungen ab und klärte uns auf über Hygiene, Ernährung und gab uns auch ein paar Medikamente für kleine Notfälle mit auf den Weg. Deshalb achteten wir extrem sorgfältig auf alles was wir uns in den Mund steckten. Selbst zum Zähneputzen verwendeten wir teures Mineralwasser. Ein Getränk mit Eiswürfeln aus Leitungswasser kam für uns nicht in Frage.

Ich wies den Mann darauf hin, aber er winkte nur lachend ab. Wir wollten ihn, nach allem was er für uns getan hatte, nicht verletzen und tranken den leckeren Saft aus dem Fruchtfleisch der Ananas und Bananen. Ich sollte es schon wenige Stunden später bitter bereuen.


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