Ferry - bem-vindos à ilha de itaparica
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1
Mein
Willi zog sich in das Badezimmer zurück. Ich erkundete derweil das
Obergeschoss. Mir fiel ein, dass Lili uns vor Schlangen gewarnt
hatte. „Sie kommen auch die Treppen hinauf.“
Vorsichtig
prüfte ich die Umgebung. Eine nackte Glühbirne baumelte von der
Decke und warf ihren trüben Schein auf den oberen Teil der Treppe
und den vorderen Teil des langen Flures. Überall hingen Spinnweben
und eine dicke Staubschicht lag auf dem gekachelten Fußboden. Es
roch muffig. Ich stieß die erste Tür auf und tastete im Dunkeln
nach einem Lichtschalter. Fand ihn aber nicht.
Ich
versuchte es im nächsten Raum. Das Flimmern einer schadhaften
Neonleuchte zuckte über den Zementfußboden und die zwei dürftigen
Stockbetten ohne Matratzen. Sonst war die kleine, fensterlose Kammer
leer.
Die
dritte Tür. Ich tastete einen Lichtschalter, aber alles blieb
dunkel. Gegenüber der Tür war eine Öffnung in der unverputzten
Ziegelmauer. Ich beugte mich zögernd hinein und strengte meine Augen
vergeblich an, etwas zu erkennen. Dieser Teil des Flures lag in fast
völliger Dunkelheit. Grausig, was da vielleicht ungesehen lauert.
Ich tappte nach der nächsten Tür, die sich nur widerstrebend öffnen
ließ. Auch hier blieb alles dunkel.
Nun
kam der letzte Raum. Der düstere Schimmer einer 25 Watt Birne
tauchte das recht große Zimmer in schummriges Licht. Den Hauptteil
füllte das aus Ziegeln gemauerte Ehebett aus, auf dem sich ein
Haufen dumpf riechender Matratzen stapelte, die voller Stockflecken
waren, mit Spinnweben und Staub überzogen. Daneben stand ein
eisernes Bettgestell. Auf dem Boden lag Sand. Eine Tür führte in
das angrenzende Badezimmer, das in elegantem Braun und Gold gekachelt
war. Trotz der grauen Staubschicht sah man, dass alles neu war. An
der Badewanne hingen noch Teile des Klebestreifens mit dem
Firmennamen.
Das
Schlafzimmer hatte zwei Fensteröffnungen, die nur mit Läden
verschlossen waren. Ich stieß sie auf. Vom einen Fenster ging der
Blick auf die mit weit ausladenden Bäumen bestandene Plaza,
die, obwohl es noch früh am Abend war, bereits still und verlassen
dalag. Vom anderen Fenster schaute ich in einen kleinen Innenhof
hinab, der zu unserem Haus zu gehören schien. Über das flache,
niedrige Dach des Nachbarhauses hinweg sah ich einen schmalen
Streifen Strand. Der Sand leuchtete matt im Schein der
Straßenlaternen. Dahinter verlor sich das Meer in der Schwärze der
Nacht. Nur ein einziges schwaches Lichtpünktchen, ganz weit draußen,
stand verloren inmitten des Nichts.
„Geli,
um Himmels willen, wo steckst du denn?“, schrie mein Willi irgendwo
im Haus.
„Ich
bin hier oben.“
„Oben?
Wieso oben?“, kam seine aufgebrachte Stimme näher. Dann stand er
kreidebleich im Türrahmen. „Donnerwetter, jetzt komm halt, wenn
ich dich rufe“, herrschte er mich an.
„Was
ist denn mit dir los? Bist du dem Wilden Mann begegnet?“
„Ja!
Geh runter und schau ihn dir an!, “ brüllte er.
„Vergreifst
Du Dich nicht etwas im Ton?“, knurrte ich zurück.
„Würdest
Du jetzt bitte kommen“, flüsterte er drohend. „Da unten ist eine
Spinne.“
„Eine
Spinne? Deswegen so ein Spektakel? Schau dich hier mal um. Es wimmelt
von Spinnweben. Rate mal, wer die gesponnen hat.“
„O.k.!
Ich war es. Ich gebe alles zu. Jetzt aber komm endlich und sieh es
dir an“, gab mein Willi völlig entnervt von sich.
Wir
tasten uns vorsichtig die steile Treppe hinab. Mein Willi stieß die
quietschende Tür auf. Ich schaute in ein enges Badezimmer, das einen
neuen Anstrich bitter nötig hatte. Die ehemals weißen Wände waren
voll schwarzer Schimmelflecken. Zu meiner Rechten befand sich ein
winziges, dreckverkrustetes Waschbecken mit einem Riss im Porzellan,
voraus eine Kloschüssel, daneben die Dusche, versteckt hinter einem
zerfledderten, schmuddeligen Plastikvorhang.
„Wo?“,
flüsterte ich. Wortlos deutete er hinter die Tür. Vorsichtig lugte
ich um die Ecke und zog blitzschnell meinen Kopf wieder zurück. Ich
konnte mit Spinnen leben, aber dieses fette, haarige Ungeheuer, das
mit seinem walnussgroßen Körper und den langen, dicken Beinen eine
ganze Männerhand ausgefüllt hätte, ließ mir das Blut in den Adern
gefrieren.
„Schlag
sie tot! Um Gottes Willen, schlag sie tot!“
Eine
geeignete Waffe, schnell. Ein Besen. Wo ist ein Besen. Wir suchten in
der Küche. Hastig rissen wir alle Schränke auf, wobei die Tür des
Einbauschrankes aus den Angeln kippte und mir hart gegen die Schulter
prallte. Mein Willi fand unter dem Spülstein eine große Dose
Insektenspray. Hintereinander schlichen wir Richtung Toilette.
Vorneweg, am ausgestreckten Arm, die Spraydose, dann, mit
größtmöglichem Abstand, der zum Arm gehörende Willi. Ich folgte
ihm dicht auf dem Fuße. Nach einem flüchtigen Blick hinter die Tür
sprühte mein Willi in blinder Mordgier die Dose leer.
„Hach!“
sagte er dann. „Die wäre fertig.“
Wir
erstickten fast am Giftdunst, der vom Bad in den Flur quoll.
„Dort
muss die Tür zum Innenhof sein. Schließ schnell auf, bevor wir tot
umfallen“, sagte ich und hielt mir die Nase zu.
Dass
mein Willi den Schlüsselbund unverzüglich auf dem Küchentisch
fand, nachdem er nur in seinen Hosentaschen danach gesucht hatte,
grenzte an ein Wunder. Gewöhnlich verbringt er einen Großteil des
Tages auf der Suche nach Schlüsseln. Wer glaubt, es handele sich um
eine lästige Schwäche, dem sei versichert, dass es dem Alltag
Spannung verleiht, Einfallsreichtum und Kombinationsvermögen schult
und immer wieder für ein freudiges Aha-Erlebnis sorgt. Während ich
dies am Rande bemerke, versuchte mein Willi den Schlüssel im Schloss
zu drehen.
„Probier
du mal“, fordere er mich entnervt auf, während ich aufgeregt von
einem Fuß auf den anderen trat.
„Mit
Gefühl, Willi, mit Gefühl“, sagte ich und fingerte am Schlüssel
herum.
„Lass
mich halt machen!“, fauchte er nach einer gefühlten dreißigstel
Sekunde und stieß mich zur Seite.
„Ich
schlag gleich die Tür ein“, knirschte er mit zusammengebissenen
Zähnen.
„Wenn
du den Schlüssel abgebrochen hast, wird dir eh nichts anderes übrig
bleiben“, sagte ich.
Als
wir schließlich auf den Innenhof traten und nach frischer Luft
schnappten, war der Schlüssel nur ganz leicht verbogen.
„Ich
sah das Biest erst gar nicht“, erzählte mir mein Willi, während
wir Arm in Arm zum nächtlichen Himmel empor schauten. „Ich hatte
mich gemütlich zu einer Sitzung niedergelassen. Da hocke ich also,
drücke vor mich hin und lasse meinen Blick schweifen. Mich traf fast
der Schlag, als ich die Bestie plötzlich entdeckte.“
Quicklebendig
trat diese uns wenige Augenblicke später mit ausholenden Schritten
im Flur entgegen. Jetzt ging erneut die hektische Suche nach dem
Besen los. In der Eingangshalle, unter der Treppe, hinter der
Küchentür. Endlich fanden wir ihn auf dem Hof. Ich holte kräftig
aus und schlug damit auf das Scheusal. Es schien den Schlag locker
wegzustecken. Zielen und dann auch zu treffen war nie meine Stärke.
Ich warf den Besen in die Ecke und flüchtete ein paar Stufen die
Treppe hinauf, wo mein Willi längst Posten bezogen hatte.
„Schlag
sie doch tot!“, schrie er mich an, besann sich dann aber sofort
seiner Rolle als Beschützer.
Entschlossen
griff er selber zur Waffe. Blindlings drosch er wieder und wieder mit
aller Gewalt damit auf den Boden. Schließlich zersplitterte der
Besen. Die Spinne klebte als schmieriger Fleck auf dem Zement.
„Wie
ich die Lage sehe“, sagte ich, „schlafen wir lieber im Zelt.“
Mein
Willi und ich schleppten das eiserne Bettgestell aus dem großen
Schlafzimmer über den Flur in einen der vier anderen Räume und
schufen damit Platz für unser Igluzelt. Nachdem wir das Lager
hergerichtet hatten, verstauten wir die Rucksäcke gut verschnürt im
Einbauschrank.
„Und
jetzt lange und ausgiebig duschen. Was hältst du davon?“
Ich
zog mich aus und stieg in die neue Wanne. Es tröpfelte spärlich aus
der Leitung, als ich die Wasserhähne aufdrehte. Ich drehte ein paar
Mal auf und zu, dann gab ich auf.
Mein
Willi stellte bei einem Blindversuch fest, dass die Wasserspülung
der Toilette nicht funktionierte. Als er sich die Hände wusch, stand
er alsbald in einer Pfütze.
„Sehr
ordentlich gekachelt, dieses Bad. Aber nicht besonders
benutzerfreundlich. Wir werden besser das Spinnenbadezimmer
benutzen“, meinte er.
Leider
wurde an jenem Abend nichts mehr aus einer erfrischenden Dusche. Als
mein Willi dort nämlich den Wasserhahn aufdrehte, bekam er einen
kleinen Stromschlag.
Wir
saßen uns am Küchentisch gegenüber und knabberten ein paar Kekse
aus Lilis Tüte.
„Ich
ziehe Bilanz, Boss“, sagte ich. „Wir sind jetzt genau eine und
eine halbe Stunde da. Wir haben unser Lager bereitet, eine Spinne
ermordet, den Besen zerschlagen, eine Schranktüre herausgerissen,
das Badezimmer unter Wasser gesetzt, einen Schlüssel verbogen, einen
Giftgas-Angriff und einen Stromschlag überlebt. Das Haus ist
entsetzlich dreckig und ich möchte am liebsten davon laufen. Was tun
wir als nächstes?“
„Schlafen
gehen. Morgen ist auch noch ein Tag, “ sagte mein Willi und gähnte
laut.
2
Nach
dem turbulenten Einzug waren wir früh ins Zelt gekrochen. Zunächst
ließ mich die Hitze, die sich in unserer Schlafhöhle staute, nicht
einschlafen. Ich lag lange wach und lauschte in die Stille. Später
erhob sich ein Wind. Es rauschte in den Baumkronen vor dem Haus und
klapperte dumpf auf dem Ziegeldach. Die Zeltwand bauschte sich sacht
im Luftzug, der durch das Zimmer strich. Eine kleine Brandung rollte
an den Strand und bald ging ein heftiger Regen nieder. Während ich
lauschte,
schlich auf Zehenspitzen der Schlaf herbei.
Erfrischt
und ausgeruht erwachte ich nach der ersten Nacht in unserem neuen
Heim. Durch das weiße Geflecht des Moskitonetzes, das den
Zelteingang verschloss, fiel mein Blick auf den leuchtend blauen
Morgenhimmel, der das Fensterviereck ausfüllte. Wohlig räkelte
ich mich auf meiner Matte. Von der Plaza
drangen Männerstimmen herauf, kehlige, tiefe Laute, in gemächlicher
Rede. Eine Horde Spatzen randalierte. Das Meer schwieg. In den
salzigen Hauch der Morgenluft mischte sich der Duft nach frisch
gebackenem
Brot. Ich fühlte mich rundum wohl. Unsere ziellose Fahrt nach Norden
hatte ihr Ende gefunden.
Ich
blickte auf meinen Willi, der auf dem Rücken ausgestreckt neben mir
schlief.
Mit halb offenem Mund schnarchte er leise. Dieser Höhleneingang
mitten im stacheligen Gestrüpp gehörte mit einem zärtlichen
Guten-Morgen-Kuss verschlossen. Kaum hatte ich meine Lippen auf das
röchelnde Loch gesenkt, fuhr mein Willi mit einem Aufschrei in die
Höhe. Dabei schlug er seine Schneidezähne an meine Oberlippe, holte
gleichzeitig mit beiden Armen aus und schlug mich dabei um ein Haar
k.o.
Er
schrie, ich kreischte: „Bist du wahnsinnig?“
Ich
rieb meine Blessur und starrte ihn fassungslos an.
„Wie
kannst du mich so blödsinnig erschrecken?“, schnauzte er mich an
und seine schlafverkrusteten Augen funkelten wütend.
„Ich
wollte dich nur ganz lieb...“ weiter kam ich nicht.
„Ach,
lass mich doch in Ruhe“, raunzte er, riss den Reißverschluss des
Moskitonetzes auf und zog, Verwünschungen murmelnd, ab.
Wütend
und verletzt kroch ich wenige Minuten später aus unserem Nest. Ich
zog den Badeanzug an, schlang mir ein Handtuch um die Hüften und
trat ans Fenster. Unter dem dichten Laubdach der mächtigen Bäume
saßen vier junge Männer auf der Erde. Sie trugen nichts als kurze
Hosen, abgewetzt und verblichen. Sie hatten riesige Fischernetze
sorgfältig zwischen den Baumstämmen ausgelegt und flickten daran.
Leise plauderten sie miteinander. Im Haus schräg gegenüber lehnte
ein alter Mann im Fenster. Sein schlohweißes Kraushaar strahlte im
Sonnenlicht und bildete einen lebhaften Kontrast zu seiner sehr
dunklen Haut. Hinter ihm, irgendwo im Haus, sang eine Frau mit heller
Stimme und ein Säugling schrie. Ein zottiger, magerer Hund döste
mitten auf dem Kopfsteinpflaster der schmalen Straße. Seine Beine
zuckten rhythmisch. War er Verfolger oder Verfolgter in seinem
morgendlichen Traum? Linker Hand lag das Meer wie ein hellblauer
Spiegel, der sich am Horizont im Frühdunst verlor.
„Ach
Quatsch!“ sagte ich laut.
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3
Ich
flitzte die Treppe hinunter und schlüpfte aus dem Haus. Im
Spinnenbadezimmer hörte ich meinen Willi rumoren. Nur kurz hoben die
jungen Netzeflicker ihre Köpfe, als ich ihnen ein
„Bom dia“
hinwarf. Sie erwiderten meinen Gruß nicht. Obwohl es erst acht Uhr
war, brannte mir die Sonne heiß auf den Rücken, als ich aus dem
Schatten der Bäume auf den gleißenden Strand trat. Träge schmatzte
das Wasser und züngelte gelangweilt am Ufer. Was mir aus der Ferne
als hellblauer Spiegel erschienen, war aus der Nähe gesehen eine
bräunliche Brühe, auf der eine Zitronenschale und eine Bierdose
dümpelten. Kleine Zweige, Blätter und Grashalme schwammen
haufenweise auf dem Wasser. Das wirkte nicht gerade einladend, und
ich verwarf enttäuscht die Idee eines erfrischenden Morgenbades im
Meer. Stattdessen entschloss ich mich zu einem Spaziergang. Sollte
der Frosch doch eine Weile in seinem eigenen Gift schmoren.
Lili
erklärte mir später einmal, warum das Wasser oft so schmutzig war:
Dieser Zipfel der Insel, der nur wenig vom Festland entfernt war, lag
nahe der Mündung eines großen Flusses, der besonders nach
Regenfällen viel Erde und Gras anschwemmte.
Ich
schlenderte barfuß die Wasserlinie entlang durch den feuchten Sand.
Weiter oben am Strand lag allerlei Unrat, den die Flut in der Nacht
angeschwemmt hatte. Einfache Häuser und Hütten standen nur wenige
Meter vom Wasser entfernt, die meisten fest verrammelt; das waren
wohl die Sommerhäuser des Mittelstandes aus der Großstadt. Vor
einigen spielten Kinder im Sand, kläfften mir giftig die struppigen
Köter nach, lugten Frauen neugierig aus offenen Haustüren oder
Fenstern.
Ich
wanderte immer weiter. Längst lag das letzte Haus weit hinter mir.
Vereinzelt standen Palmen auf dem welligen, mit dichtem
Dornengestrüpp bewachsenen, unzugänglichen Ödland, das sich breit
zwischen dem Strand und einem Wald hinzog. Auch wenn inzwischen der
Frühstückshunger in meinen Eingeweiden rumorte, ging ich immer
weiter. Sollte der Frosch sich ruhig Sorgen machen. Die Sonne
kletterte schnell höher und brannte auf meiner Haut. Ich legte das
Badetuch über Kopf und Schultern und wanderte beharrlich weiter.
Das
Wasser wurde immer klarer, je mehr ich mich vom Dorf entfernte. Ich
ließ das Badetuch in den Sand gleiten und warf mich in das laue
Nass. Zuerst planschte ich ein bisschen herum und ließ mich
schließlich auf dem Rücken treiben. Das Wasser streichelte meine
erhitzte Haut; die klare Morgenluft drang tief in meine Lungen; mein
Blick verlor sich im Blau des Himmels.
Irgendwann
merkte ich, dass mich die Strömung ein gutes Stück parallel zum
Strand nach Norden getrieben hatte. In der Ferne sah ich mein Tuch
als roten Fleck im gelben Sand. Langsam schwamm ich zum nahen Ufer,
bis ich mit den Händen den Boden berührte. Dann richtete ich mich
auf. Zu meinem Entsetzen versank ich mit dem Fuß sofort knietief im
Sand, verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser zurück. Egal,
wo ich mich auch immer mit Händen oder Füßen abstützen wollte,
versank ich in Grund und Boden. Ich wurde ganz kopflos. Wie wild
paddelte ich im Wasser herum und suchte vergeblich Halt auf dem Boden
zu finden. Endlich tastete ich eine Stelle, wo ich mich aufrichten
konnte. Wie von Furien gejagt rannte ich durch den wabbeligen Sand,
bis ich auf festen Boden kam, hastete weiter, die kleine Düne hinauf
und ließ mich schluchzend zu Boden plumpsen. Das Herz schlug mir bis
zum Hals. War es das, was man Treibsand nennt? Keine zehn Pferde
würden mich je wieder an diesen Strand bringen.
Als
ich mich einigermaßen gefasst hatte, rappelte ich mich auf und eilte
zurück, Richtung Dorf. Ängstlich hielt ich mich dem Wasser fern und
stapfte mühsam durch den lockeren, heißen Sand der Düne bis
dorthin, wo mein Badetuch lag. Inzwischen hatte ich mich von meinem
Schreck erholt. Hätte ich den Kopf nicht verloren, sagte ich mir,
wäre ich einfach gegen die Strömung zurück geschwommen, bis ich
festen Grund gefunden hätte. Ich war froh, dass niemand meinen
kläglichen Auftritt gesehen hatte. Der Rückweg schien kein Ende zu
nehmen. Schweißgebadet schleuderte ich das Badetuch zu Boden, als
ich mich endlich auf unserem schattigen Innenhof auf einen Stuhl
fallen ließ.
„Das
Meer eine Dreckbrühe. Der Strand eine Müllkippe. Kühler Schatten
unter Palmen? Pah! Da lache ich nur. Palmen! Ich habe drei oder vier
gesehen, in der Ferne inmitten einer dornenüberwucherten Wildnis.
Die Sonne knallt dir am frühen Morgen schon erbarmungslos auf den
Schädel und am Ende verschlingt dich der Sand“, meldete ich meinem
Willi, während ich mit Handcreme und Toilettenpapier meine Fußsohlen
bearbeitete, um ein paar Teerbatzen zu entfernen.
Er
goss mir eine Tasse Tee ein und sagte:
„Der
Kühlschrank ist voller Schimmel; das Abwasser der Spüle geht direkt
auf den Innenhof, das wird schön stinken bei der Hitze; bei
Tageslicht ist das Haus noch viel schmutziger, als wir dachten; der
Hof ist ein Rattenloch, ich hatte heute schon das Vergnügen, eine
kennenzulernen; der kleine Dorfladen um die Ecke hat Apothekenpreise.
Und jetzt die gute Nachricht: Dreh dich um.“
Hinter
mir an der Hauswand war ein Wasserhahn und darüber starrte ein
rostiges Rohr aus der Wand.
„Hier
kannst du dich duschen, ohne Leib und Leben zu riskieren.“
Mein
Willi hatte auch bereits festgestellt, dass ein Spanner mindestens
eins neunzig groß sein muss, damit er über die Mauer in unseren Hof
schauen kann. Wir holten den Küchentisch ins Freie, legten unser
Badelaken als Tischtuch darauf und deckten den Frühstückstisch.
Mein Willi hatte frisches Brot, Butter und Marmelade besorgt und auf
mich gewartet, obwohl ihm der Magen längst knurrte.
„Tut
mir leid, das von heute Morgen“, sagte er, während er auf beiden
Backen mampfte.
Er
gestand mir, dass er die ganze Nacht kaum geschlafen habe. Immer
wieder sei er aufgewacht, habe ins Dunkel gelauscht und allerlei
Geräusche gehört. Erst gegen Morgen sei er dann wirklich
eingeschlafen.
„Ich
habe lauter wirres Zeug geträumt. Plötzlich hat sich etwas Warmes,
Feuchtes an meinem Mund festgesaugt. Ich bin zu Tode erschrocken.
Verzeih, Gelimädchen, dein Kuss war der Höhepunkt eines
Albtraumes.“
„O.K.
Boss. Wenn ich mir die letzten 14 Stunden anschaue, scheint das Leben
hier aufregend zu werden.“
4
In
den Stunden nach dem Frühstück waren wir damit beschäftigt,
unseren Innenhof aufzuräumen, schließlich sollte dort unser
Hauptaufenthaltsraum sein. In dem Geviert, das wohl sieben mal
sieben Meter groß war und allseits von Mauern umgeben, wuchs ein
schmächtiger Papayabaum und zwei große Büsche, die wir mit unseren
geringen botanischen Kenntnissen gerade noch der Abteilung
Holzgewächse zuordnen konnten. Eine Menge Unkraut wucherte am Boden.
Allerlei Unrat lag herum; in einer Ecke türmten sich Berge von
leeren Flaschen; ein kaputter Stuhl streckte unter dem Baum alle
viere von sich, malerisch umwunden von Schlinggewächsen; Bretter und
Brettchen moderten allenthalben verstreut vor sich hin. Da und dort
bröckelte der Verputz von den bemoosten, schwarzfleckigen Wänden.
Das Abflussrohr der Spüle ragte aus der Wand und ergoss die seifigen
Fluten mit den Speiseresten auf den Boden. Leider war die
Ausflussstelle so niedrig, dass wir kein Gefäß darunter stellen
konnten, deshalb installierten wir am Rohrende das Teesieb, um
wenigstens die Speisereste aufzufangen. Wir buddelten einen kleinen
Graben, um das Wasser vom Haus wegzuleiten. Den riesigen Karton
den wir unter der Treppe fanden,
füllten wir mit leeren Flaschen
„Die nehmen wir mit, wenn wir zum Einkaufen fahren. Das gibt eine Menge Pfand. Da werden sich Lili und Victor freuen“, sagte ich.
Diese Idee sollte uns noch einige Schweißtropfen kosten und uns entsetzlich blamieren. Doch zunächst stand der Karton mit den Flaschen noch mehr als einen Monat herum.
„Die nehmen wir mit, wenn wir zum Einkaufen fahren. Das gibt eine Menge Pfand. Da werden sich Lili und Victor freuen“, sagte ich.
Diese Idee sollte uns noch einige Schweißtropfen kosten und uns entsetzlich blamieren. Doch zunächst stand der Karton mit den Flaschen noch mehr als einen Monat herum.
Als
wir auf dem Hof endlich einigermaßen Ordnung geschaffen hatten,
brannte die Sonne längst unerbittlich auch in den letzten Winkel und
meinem Willi brummte der Schädel von der Hitze, vom Bücken und von
der Nervenbelastung. Nervenbelastung? Dreh doch mal in einem
tropischen, seit langem von Menschen nicht betretenen Innenhof leere
Dosen und Bretter um. Die Bewohner dieser Blechhöhlen und
Holzunterstände sind für einen mitteleuropäischen Stadtmenschen
alles andere als appetitlich. Mit dem Besen in der rechten Hand und
der Angst in Nacken erwarteten wir gespannt, dem ersten Skorpion, der
ersten Schlange ins starre Auge zu blicken. Doch glücklicherweise
begegneten wir nicht einmal der Ratte.
„Mir
ist der Appetit vergangen“, sagte mein Willi, als es längst Zeit
für ein Mittagessen war.
„Das
ist bedenklich“, sagte ich. „Aber es trifft sich gut, denn außer
einer rostigen Dose Ölsardinen aus dem Küchenschrank, der Rest vom
Frühstück und ein paar Krümel vom Abendessen kann ich dir nichts
anbieten.“
Mein
Willi zog sich zu einem langen Nachmittagsschlaf zurück, während
ich meine Putzwut in der Küche austobte. Erst als auch der letzte
Teller, der letzte Topf gespült waren, der Kühlschrank vom Schimmel
und vertrockneten Speiseresten befreit, die Schränke ausgeputzt, der
Herd gewienert und der Boden gewischt, stand mein Willi in der Tür
und kratzte sich den nackten Bauch, während er gähnte.
„Nun
habe ich Hunger“, sagte er. „Hast du was gekocht?“
Ein Teller mit brasilianischer Feijoada Gildemax http://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en |
Mein
Willi beschloss, meiner müden Füße und seines unaufschiebbaren
Hungers willen, in dem einzigen Restaurant des Ortes essen zu gehen.
Er hatte es bei seinem morgendlichen Einkauf gesichtet. Beim Gedanken
an die Zeche verging mir mein eh schon kleiner Appetit, aber ich war
zum Streiten zu müde.
„Es
ist gar nicht weit. Man sitzt in einem schönen, schattigen Innenhof.
Wir haben das doch verdient, Gelimädchen, nachdem wir den ganzen Tag
geschuftet haben. Nach so einem anstrengenden Tag muss ich einfach
etwas Warmes in den Bauch kriegen. Ab morgen geben wir dann wirklich
kein Geld mehr aus.“
Ich
schluckte dreimal über das „wir“ und machte mich dann hastig
frisch, denn mein Willi verfiel förmlich vor meinen Augen vor lauter
Hunger. Kaum war ich fertig, eilte er mit großen Schritten und ich
mit schnellen, kleinen hinter ihm her, über die Plaza,
dem warmen Essen entgegen. Leider – oder Gottseidank - war es uns
nicht bestimmt, von einem weißbefrackten Kellner im grünen Schatten
eines gepflegten, pflanzenüberwucherten Innenhofes verwöhnen zu
werden. Nicht einmal von einer schmuddeligen Alten in
fettverspritzter Schürze. Das Lokal war nämlich nur am Wochenende
geöffnet. Mein Willi hatte diese kleine Einzelheit übersehen.
Es
war nur unserem beiderseitigen guten Willen zu verdanken, dass der
Tag doch noch ein harmonisches Ende nahm. Wir kauften in dem kleinen
Laden an der Ecke ein paar Kleinigkeiten für ein einfaches, kaltes
Abendessen und beschlossen am anderen Morgen als erstes an das andere
Ende der Insel zu fahren, um dort im Einkaufszentrum ein Vorräte
einzukaufen.
Im
letzten Licht des schnell schwindenden Tages saßen wir mit vollen
Bäuchen auf der Mauer an der Uferpromenade, welche die Plaza
vom Strand trennte und ließen die Beine baumeln. Die männliche
Jugend des Ortes hatte sich zu einem Fußballspiel eingefunden. Mein
Willi ergriff sofort Partei für die Mannschaft, die von Nord nach
Süd spielte. Obwohl mir das piepegal war, musste ich natürlich
dagegen sein. Mich fesselte weniger das
Fußballmatch,
als vielmehr die ungemein schönen Körper der Burschen, das Spiel
der Muskeln, die glatte, dunkle Haut, die Kraft, mit der sie vorwärts
stürmten im Kampf um den Ball.
Als
der letzte Kicker das improvisierte Spielfeld verlassen hatte, der
Nachthimmel sich mit den südlichen Sternbildern ausstaffiert und
Ruhe auf der Plaza
einkehrt war, füllte sich der Strand erneut mit Leben. Frauen kamen
mit Eimern, Körben, Keschern und Laternen, glitten lautlos, samt
ihren weiten Röcken, bis an die Hüften ins Wasser. Das Treiben der
schweigenden, schwarzen Schatten im Dunkel der lauen Nacht, das
Aufblitzen und Herumirren der Laternen auf dem glatten Wasser, machte
uns neugierig und doch wagten wir es nicht, einfach hinzugehen und in
die Eimer zu schauen. Es wäre uns vorgekommen, als würden wir ohne
Einladung ein fremdes Haus betreten.
In
den folgenden Wochen kamen die Frauen noch manche Nacht. Tagsüber
warfen sie an diesen Stellen eimerweise Fischabfälle ins Wasser, um
so die Krustentiere anzulocken, die sie nachts einfingen.
5
Am
nächsten Tag schien wieder die Sonne.
„Ich
glaube, wir haben die Regenzeit überstanden“, sagte ich.
Wie
sehr ich mich getäuscht hatte, mussten wir schon am gleichen Tag
erleben. Zunächst aber waren wir auf dem Heimweg im altersschwachen
Inselbus, eingekeilt wie nie in unserem ganzen Leben zwischen dicken
und dünnen Gestalten und schwitzten uns die Seele aus dem Leib.
Nachdem wir morgens mit dem gleichen Gefährt in anderthalb Stunden
die 30 Kilometer bis zum Fährhafen gekrochen waren, in dessen Nähe
das Einkaufszentrum war, kauften wir im größten und modernsten
Supermarkt, den wir je sahen, mehr als wir zu tragen vermochten. Man
hätte fast vergessen können, dass man sich in der Dritten Welt
befand, wenn nicht an jeder Kasse ein Kind gestanden hätte, das die
Waren in Tüten oder Kartons einfüllte und dann auf einem Karren zum
Parkplatz oder zur Bushaltestelle brachte. Die kleinen Körper
bewegten sich flink, denn die Konkurrenz war groß. Barfuß und in
zerschlissenen Kleidern bildeten sie einen grotesken Gegensatz zu der
Welt aus Chrom und Plastik dieses Konsumtempels.
Ein
milchkaffeebrauner Bub mit rotblondem Kraushaar von ungefähr 12
Jahren karrte unsere Ware zur Bushaltestelle. Es machte mich
verlegen. Als es eine kleine Böschung hinauf ging und er sich schwer
tat, wollte mein Willi ihm helfen, doch der Kleine wehrte giftig und
ungestüm ab. Ich wusste nicht, wie viel Trinkgeld ich ihm geben
sollte. So griff ich nach irgendeiner Münze und stecke sie ihm nach
getaner Arbeit zu. Nach einem flüchtigen Blick darauf schaut er mir
mit einer Verachtung in die Augen, die größer nicht hätte sein
können und schleuderte mir das Geld vor die Füße. Er warf den Kopf
in den Nacken und schob mit seinem Karren ab. Ich wäre am liebsten
in den Boden versunken.
Endlich
kam der Bus vom Hafen herauf gekrochen. Er war schon brechend voll.
Als sich die Tür öffnete, stand vor mir eine Menschenwand. Außer
uns warteten mindestens noch zehn Frauen mit Einkäufen beladen und
mit Kindern am Rockzipfel. Sie drängten mich zur Seite, als ich
zögerte einzusteigen.
„Jetzt
mach schon“, sagte mein Willi unwirsch. „Wer weiß wann der
nächste Bus fährt.“
Und
dann erlebte ich aufs Neue das Wunder, dass auch in den vollsten Bus
immer noch Leute hineinpassen. Die, die einen Sitzplatz innehatten,
nahmen sich hilfsbereit der Einkaufstüten und Taschen der anderen
an, verstauten sie unter den Sitzen, zwischen den Beinen und
-zusammen mit den Kleinkindern - auf dem Schoß. Trotz der Enge und
der Hitze war keinerlei Gereiztheit zu spüren. Jeder ergab sich
gelassen in sein Schicksal. Ich staunte über meinen Willi, der sich
niemals am Samstag oder zu einem Schlußverkauf in ein Kaufhaus
begab, weil er die aggressive Enge der Menschenmenge nicht ertragen
kann. Nun stand er stoisch da, im Schweiße seines Angesichts.
Über
den Lärm des Motors hinweg rief ich ihm zu: „Du bist aber ganz
schön tapfer.“
Er
grinste und sagte: „Mir bleibt ja nichts anderes übrig. Wenn ich
mich bei der
Affenhitze aufrege, trifft mich sicher der Schlag.“
Obwohl
der Bus so voll war, dass sich bestimmt die Achsen bogen, hielt er
immer wieder am Straßenrand und nahm Leute mit. Allerdings kroch er
jetzt noch langsamer, als auf der Hinfahrt, und die kleinste Steigung
nahm er unter lautem Röhren und im Schritttempo.
Auf
halbem Weg versperrte uns eine Gruppe von sieben Pferden den Weg. Es
waren zwei Hengste, vier Stuten und ein Fohlen. Das Fohlen lag auf
dem Asphalt, Mutter und Tanten zupften nachlässig Gras am
Straßenrand, während sich die beiden Hengste eine kleine Machtprobe
lieferten. Sie bäumten sich voreinander auf, schlugen sich mit den
Hufen und waren so vertieft in ihre Händel, dass sie den
herannahenden Bus gar nicht beachteten. Wir mussten anhalten. Der
Fahrer schlug immer wieder auf die Hupe ein, die nur ein treuherziges
„miiiiiiieg“ fispelte. Das Fohlen schaute erwartungsvoll her, die
Pferdedamen zupften weiter am Gras. Erst als der Fahrer den Arm aus
dem Fenster streckte und mit der flachen Hand gegen das Blech der Tür
trommelte, ergriffen die Pferde die Flucht. Sie galoppierten mit
wehenden Mähnen vor uns her, die Straße entlang, und verschwanden
nach etwa hundert Metern in einem Feldweg.
Kurz
vor dem Eingang des Dorfes lag eine armdicke, vielleicht eineinhalb
Meter lange Schlange mitten auf der Fahrbahn. Ich bemerkte sie erst,
als der Busfahrer etwas rief und der ganze Bus in ein Gebrüll
ausbrach. Die Schlange glitt auf die Gegenfahrbahn, der Busfahrer zog
das Steuer scharf nach links und versuchte, unter dem anfeuernden
Gejohle der Fahrgäste, das Tier zu überfahren. Es wäre ihm um ein
Haar auch gelungen, aber im letzten Augenblick schleuderte die
Schlange ihren ganzen Körper hoch, flog im Bogen durch die Luft und
verschwand im Gras. Alles lachte und krakeelte, während der Fahrer
nur mit Müh und Not das schlingernde Fahrzeug wieder in die Gewalt
bekam.
Fünf
Stunden nach unserer Abfahrt am Morgen waren wir wieder daheim. Mein
Willi trug, was er tragen konnte, während ich mit dem Rest wartete.
Schließlich hatten wir nach und nach alles heim geschleppt. Einen
Sack mit 10 Kilo Orangen, Lebensmittel für die ganze Woche und zehn
kleine Flaschen Guaraná, eine sehr anregende Limonade aus einer
einheimischen Frucht. Diese Limonade war sehr billig. Teuer war nur
das Flaschenpfand.
„Aber
das bekommen wir ja wieder, wenn wir die Flaschen abgeben“, sagte
ich, als wir vor der Wahl standen, zwei große oder lieber die
kleinen Flaschen zu nehmen.
Wir
entschieden uns für die kleinen, wegen der Kohlensäure. Es sollte
mit Abstand die teuerste Limonade unseres Lebens werden. Leider
stellten wir das erst fest, als wir schon insgesamt vierzig Flaschen
zu je einer Mark Pfand gekauft hatten.
6
Gegen
Abend zogen schwere Wolken auf. In der Nacht raste ein Sturm über
das Meer heran, und es begann fürchterlich zu regnen. Es schüttete
fast unaufhörlich tagelang und die Temperatur sank bis auf 8°C.
Niemals hätten wir uns solche Kälte in diesen Breiten vorstellen
können. Da unser Haus, wie auf der Insel üblich, keine
Fensterscheiben hatte, sondern nur die Fensterläden, durch deren
Lamellen der Wind ungehindert in die Häuser blies, froren wir
erbärmlich. Jetzt waren wir froh, dass wir unsere Daunenjacken dabei
hatten.
Wir
saßen bei geschlossenen Fensterläden in der Küche, vor der
geöffneten Backofentür, in unsere Jacken gehüllt, spielten
tagelang Karten und schlürften heißen Tee. Dieses Herumsitzen in
der feuchten, kalten Düsternis, als einzige Ablenkung unsere
Spielkarten, drückte sehr auf unsere Gemüter. Meinem Willi platzte
alle naselang der Kragen, ich brach jedes mal in Tränen aus. In den
kurzen Regenpausen stellten wir uns an die offene Haustüre und
schauten auf die überschwemmte Plaza
hinaus. Die wenigen Menschen, die vorbei kamen, waren auch nicht
anders angezogen, wie an den heißen, sonnigen Tagen, nur hatten sie
sich ein oder zwei Handtücher über die Schultern gelegt. Wie sehr
mochten sie frieren, da es uns ja trotz unserer Jacken kalt war. Und
erst recht nachts. Grau hing der Himmel über dem erdbraunen Meer und
es sah aus, als ob nie wieder die Sonne scheinen wollte.
Irgendwann
landeten die Spielkarten in der Ecke, denn mein Willi hatte es satt,
dauernd zu verlieren. Er hüllte sich in Schweigen und durchbohrte
mit erbittertem Blick den Gasherd, während ich genauso erbittert den
Küchenschrank anstarrte und mich den finstersten Zukunftsgedanken
hingab.
7
Am
Samstag hatte sich das Wetter beruhigt. Wir machten uns am späten
Vormittag auf nach Salvador, um das Wochenende mit Lili und Victor zu
verbringen. Da wir bis zu diesem Zeitpunkt die Abfahrtszeiten nicht
hatten herausfinden können, standen wir lange herum, bis der Bus
endlich kam. Übrigens gelang es uns in den sieben Wochen unseres
Inseldaseins nicht, herauszubekommen, wann der Bus fährt. Selbst der
Fahrer zuckte die Schultern, und ich weiß bis heute nicht, ob er
unsere Frage einfach nicht verstand oder selber nicht wusste, wann er
fahren würde. So kam es, dass wir manchmal Glück hatten und nur
kurz warten mussten, bis sich das alte Vehikel schnaubend und
stöhnend in Gang setzte. Manchmal jedoch standen wir über eine
Stunde, bis es die Dorfstraße entlang geröchelt kam, in einer
schwarzen Wolke aus Abgasen umdrehte und dann erst einmal für
ungewisse Zeit von seinem Fahrer im Stich gelassen wurde. Zumindest
durfte man schon einsteigen, während der Chauffeur in einer der
Gassen mehr oder weniger lang verschwand.
Porto de Salvador Foto Manu Dias/AGECOM Fotos GOVBA https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en |
„Wieso
ich? Du hast sie dir doch auf einem Zettel notiert, nicht ich.“
„Aber
du hättest wenigstens daran denken können“, fuhr er mich an und
stopfte alles kunterbunt wieder in den Matchsack hinein.
„Wir
fahren trotzdem hin, ich finde das sicher auch ohne Adresse“, sagte
mein Willi, als er sich von seinem Ärger etwas erholt hatte.
Wir
erinnerten uns weder, wie der Stadtteil hieß, noch die Straße, wo
unsere Freunde wohnten, aber beide wussten wir noch, welche Buslinien
in Frage kamen. Wir vertrauten auf unseren Ortssinn, der sich des
Öfteren als gar nicht so schlecht herausgestellt hatte.
Die
nun folgende Szene, die sich mit kleinen Abweichungen jedes
Wochenende abspielte, ist nur schwer vorstellbar, wenn man es nicht
selber erlebt hat. In den deutschen Städten dürfte der
Bahnhofsplatz der Ort sein, an dem die meisten Buslinien
vorbeifahren. Ich habe in meinen Stuttgarter Jahren oft am
Bahnhofsvorplatz auf irgendeinen Bus gewartet. So alle paar Minuten
fährt einer heran, hält, man vergewissert sich, dass es auch die
Linie ist, mit der man fahren will. Im Zweifelsfall fragt man den
Fahrer, der dann mehr oder weniger mürrisch Auskunft gibt.
Vielleicht muss man auch einen oder zwei andere Linien abwarten.
Dabei steht man, je nach Temperament geduldig oder ungeduldig auf dem
Gehweg und harrt des Busses, der da kommt.
Nicht
so am Hafen von Salvador, wo die Busse pausenlos auf allen drei
Fahrspuren in Scharen heranbrausen, überhaupt keine Halteabsicht
zeigen, sondern ehe man die Nummer der Linie erkennen kann, bereits
mit Vollgas vorbeigefahren sind. Auf mindestens hundert Meter Länge
verteilt, kämpft die Menge Arme schwenkend darum, mitgenommen zu
werden. Zunächst standen wir hilflos und schauten zu, um die
Spielregeln zu erlernen, aber wirklich gelernt haben wir sie nie.
Selbst nach sieben Wochen lagen wir im Rennen immer noch ganz hinten.
Ich schäme mich fast, es zu gestehen, dass wir meist über eine
Stunde brauchten, um einen Bus zu bekommen. Standen wir am Kopfende
der wartenden Menge, hielt unser Bus eher im Mittelfeld. Bis wir
atemlos angerannt kamen, war er längst um die nächste Ecke
verschwunden. Stellten wir uns im Mittelfeld auf, hielt er ganz vorn
oder ganz hinten. Meist hielt er überhaupt nicht, weil er auf der
zweiten oder dritten Spur angerast kam, und uns die Kaltblütigkeit
der anderen fehlte, uns einfach zwischen den haltenden Bussen
hindurch auf die Straße zu stürzen, um uns dem heranstürmenden
Gefährt vor die Stoßstange zu werfen. Manchmal kamen wir erst
abends auf das Festland, dann war es schon dunkel. Dieser Umstand
erschwerte unsere Lage in jeder Hinsicht außerordentlich. Einmal
rannten und fuchtelten wir geschlagene zwei Stunden, geblendet vom
Scheinwerferlicht der nicht abreißenden Kette von Bussen, an der
Haltestelle herum. Lili weinte, als wir endlich kamen, denn sie hatte
geglaubt, uns sei etwas passiert.
Heute
freilich hatten wir Glück. Nachdem wir das Treiben eine Weile
beobachtet hatten, dann winkend auf und ab gelaufen waren, stellte
uns das Schicksal eine Großfamilie zur Seite, die lautstark und
gestenreich unsere Buslinie genau vor uns zum Stehen brachte. Oma und
Opa, beide umfangreich und asthmatisch, wurden zuerst die Stufen
hinauf gehievt; dann kam das ganz kleine Gemüse, das sich mit den
Patschhändchen an Omas Rock klammerte; hinterdrein latschte der
Haufen Halbstarker, bepackt mit verschnürten Kartons, Plastiksäcken
und einem Ballen aus Rupfen; ihnen folgte die ausgemergelte Mutter im
geblümten Perlonkleid, mit einem bunten Tuch auf dem Kopf und
schließlich der Vater, der mit großer Geste einen Geldschein aus
der ausgefransten Hosentasche zog.
Wir
setzten uns ganz vorn in den Bus. Zunächst konnten wir uns
entspannen, denn es lag ein gutes Stück Weg vor uns. Nach einigem
hin und her verließen der Bus die Innenstadt, fuhr die Küste
entlang und bog schließlich in eine breite Avenida
ein.
„Jetzt
kann es nicht mehr weit sein“, sagte mein Willi, nachdem wir schon
eine Stunde gefahren waren. Er setzte sich sehr aufrecht hin und
schaute angespannt nach rechts und links. Als wir beide der Meinung
waren, dass wir über das Ziel hinausgeschossen waren, stiegen wir
aus und gingen die lange, heiße Straße ein Stück zurück.
„An
diesen kleinen Platz dort drüben, mit dem lila blühenden Baum, kann
ich mich noch erinnern“, sagte mein Willi.
Auch
mir kam die Stelle bekannt vor. Langsam schlenderten wir in eine der
stillen Straßen hinein, die parallele wieder zurück zum Platz. Wir
gingen kreuz und quer, mit System und ohne, und irgendwann taten uns
die Füße weh. Wir setzten uns in den Garten einer kleinen Kneipe
und tranken eisgekühlte Limonade. Inzwischen wurden die Schatten
immer länger.
„Ich
habe das Gefühl, dass es wirklich hier in der Nähe sein muss“,
sagte mein Willi. „Aber wir sind alle Straßen in der Umgebung
abgelaufen und nicht eine einzige kam mir bekannt vor, vom Haus ganz
zu schweigen.“ Er rieb sich lange den Nasenrücken und stand dann
abrupt auf. „Bleib Du mit dem Gepäck hier, Ich gehe noch einmal
los.“
Weit
streckte ich die müden Beine von mir und nuckelte an meiner
Limonade. Ich war viel zu müde nach dem langen Tag, um mir Sorgen zu
machen, außerdem war ich überzeugt, dass unsere Freunde tatsächlich
hier in der Nähe wohnen. Mein Willi würde das Haus schon finden.
Ich döste eine Weile vor mich hin und bestellte noch eine Limonade,
weil mich die Wirtin, an den Türpfosten gelehnt, mit finsterem Blick
hypnotisierte. Die Dämmerung fiel schnell und überraschend in den
Hof, kaum dass die Sonne hinter den Häusern verschwunden war. Ich
wurde unruhig. Wo blieb mein Willi nur so lange?
Vor
vielen Jahren, auf der Hochzeitsreise mit Albert, saß ich auch
einmal stundenlang allein in einem Gasthaus, in einem bayerischen
Kurort. Albert hatte, kaum dass wir unseren Braten mit Knödel
gegessen hatten, festgestellt, dass er den Geldbeutel im Auto
vergessen hatte.
„Ich
lasse dich als Pfand da“, sagte er lachend.
Gegen
Mitternacht brachte die Wirtin den ehrwürdigen Herren, die am
Stammtisch ihren Wein getrunken hatten, und außer mir, die letzten
Gäste waren, die Rechnung.
Zu
mir sagte sie: „Junge Frau, was machen wir denn mit ihnen?“
Die
Männer schauten zu mir her und einer sagte: „Frollein, der kommt
nicht wieder. Der Saubatzi hat sie mit der Rechnung sitzen lassen.“
Seit
zwei Stunden war Albert verschwunden. Ich saß auf glühenden Kohlen.
Endlich, als die Männer schon ihre feschen Lodenjanker anzogen
hatten und sich von der Wirtin mit markigem Handschlag
verabschiedeten, kam mein Albert und löste mich aus. Er habe erst
das Auto nicht gefunden, sei durch die ganze Altstadt gelaufen und
habe sich beim besten Willen nicht mehr erinnern können, wo wir das
Auto abgestellt hätten. Zufällig sei er bei seinem Umherirren zu
guter Letzt darauf gestoßen. Jetzt jedoch habe er nicht mehr
gewusst, wo das Gasthaus gewesen sei. Er habe sich auch nicht mehr
auf den Namen besinnen können. Er sei eben so lange umhergelaufen,
bis er hier vorbeigekommen sei. Ja, der arme Albert hatte keinerlei
Orientierungssinn, aber mein Willi war ja nicht Albert. Bloß, wo
blieb er so lange. Es wurde mir immer ungemütlicher, je später es
wurde, bis ich mir schließlich große Sorgen machte.
Ich
war so froh, als er endlich kam.
„Ich
habe es gefunden“, rief er freudestrahlend. Er war noch einmal alle
Straßen auf und ab gelaufen, aber ohne Ergebnis. „Es ging mir
einfach nicht in den Kopf“, sagte er, „ dass ich es nicht finden
konnte, obwohl ich mir sicher war, dass es in der Nähe sein musste.“
Er
war immer weiter gelaufen und gelaufen, auch als es schon fast dunkel
war.
„Und
du wirst es nicht glauben, auf welche Weise ich es fand. Es war in
einer der kleinen Querstraßen, die alle gleich aussehen, gar nicht
weit von hier. Als ich da so entlang ging, hörte ich aus einem
offenen Fenster, wie eine Frau eines unserer Kirchenlieder sang. Es
war Lili.“
Nun
konnte das Wochenende beginnen.
8
Von
nun an kamen wir schon freitags, blieben bis montags oder gar
dienstags. Nach und nach wurden wir mit einem großen Teil der
Familie bekannt, schlossen Freundschaft mit den Österreichern Martin
und Esther und lernten viel über Land und Leute. Nichts war Lili und
Victor zu viel, wenn es galt, uns den Aufenthalt schön und
interessant zu machen. Sie zeigten uns die Stadt, führten uns auf
Feste, gingen mit uns zum Essen aus oder kochten uns exotische
Gerichte, fuhren mit uns zu den schönsten Stränden und hatten immer
ein Lachen für uns bereit. Und das war vielleicht das Wichtigste
überhaupt, denn immer öfter verfielen mein Willi und ich in trübe
Stimmungen voll unausgesprochener Zukunftsängste.
Einige
Wochenenden verbrachten wir zusammen bei den „Innsbruckern“.
Martin war von seiner Firma aus für zwei Jahre in Salvador. Dafür
bekam er nicht nur eine Menge Geld, sondern lebte auch auf
Firmenkosten in einem sehr komfortablen Bungalow. Der gepflegte
Garten war von einer Mauer umgeben. Vor der überdachten Terrasse lag
der Swimming-Pool. Es ging gemütlich zu bei ihnen, auch wenn sie
sich ab und zu wegen Kleinigkeiten lautstark in die Haare gerieten.
„Jetzt
hat sie wieder den Tropenkoller“, sagte Martin, wenn er seine
Esther mal wieder, mit seiner Vergesslichkeit und Trägheit in Sachen
Haushalt oder mit seiner ausgeprägten Pascha-Haltung, zur Weißglut
gebracht hatte. „Aber sonst ist sie ganz lieb.“
Ihre
heftigen Debatten über die Zu- und Umstände im Land entbehrten
meistens nicht der Komik und gaben uns allerhand Denkanstöße.
Martin genoss den Aufenthalt, auch wenn es an seinem Arbeitsplatz
manchen Ärger gab. Die europäischen Erwartungen an den Fleiß und
die Ausdauer des bahianischen Arbeiters waren trotz aller Abstriche,
die man machte, immer noch zu hoch. Es kam häufig zu
Auseinandersetzungen, wobei die Einheimischen oft nur die Schultern
zuckten.
„Die
meisten Firmen siedeln sich in und um Sao Paolo an“, erklärte uns
Martin. „Wir haben uns für den Standort Salvador entschieden, weil
der Staat Steuererleichterungen und auch sonst allerhand
Unterstützung gibt, damit hier Arbeitsplätze entstehen, und weil
wir etwas für Entwicklungshilfe übrig haben. Die Mentalität im
Süden des Landes ist völlig anders als hier. Dort wird gearbeitet
und man hat eine gewisse Disziplin. Hier arbeiten die Leute zwei,
drei Tage, dann müssen sie sich erst mal wieder ein paar Tage an den
Strand legen.“
„Kein
Mensch kann bei der Hitze arbeiten“, warf Esther ein.
„Das
Klima hat sicher etwas damit zu tun“, fuhr Martin fort. „Die
Hitze, besonders im Sommer, lähmt, macht träge, außerdem fehlt bei
vielen die Motivation, um für mehr Komfort hart zu arbeiten. Wohnung
und Kleidung sind hier nicht so wichtig, denn tatsächlich lebt es
sich tagsüber am Strand ganz gut. Dort genügt ein flotter Bikini,
eine knappe Badehose und schon gehörst du dazu. Kein Mensch weiß,
dass du in einer Favela
wohnst. Viele schöne Frauen und gutgewachsene Männer bieten lieber
den Touristen ihren Körper an, als dass sie stundenlang am Fließband
stehen. Es vergeht kaum ein Tag, wo nicht einer der Arbeiter kommt
und darum bittet, entlassen zu werden. Die meisten haben nur wenige
Monate durchgehalten und einfach die Nase voll von der Routine des
Alltags. Sie spekulieren mit der Abfindung, die sie erhalten, wenn
sie gekündigt werden. Wir geben uns viel Mühe, die Leute zur
regelmäßigen Arbeit anzuhalten, ihnen die Vorteile aufzuzeigen,
ihnen eine Ausbildung zu geben. Manche packen es tatsächlich und das
sind unsere Erfolge. Die anderen machen eben alle naselang krank, bis
sie schließlich tatsächlich entlassen werden.“
„Wer
gibt dir eigentlich das Recht“, warf Esther ein, „in das Land zu
kommen und deine Maßstäbe den Menschen aufzuzwingen, bloß weil ihr
billige Arbeitskräfte braucht?“
„So
billig sind die Arbeitskräfte gar nicht. Wir bezahlen sie gut. Wir
gehen davon aus, dass der Arbeiter umfassend eingearbeitet werden
muss und gut bezahlt, und dass er dann auch Leistung bringt“, sagte
Martin. „Leider klappt das mit der Leistung nicht so recht.“
„Ja,
ihr bezahlt gut, aber warum? Weil ihr wollt, dass die Armen auch ein
Stück vom Kuchen bekommen? Ha! Da lache ich nur“, rief Esther
erregt. „Ihr wollt damit doch nur neue Absatzmärkte schaffen, neue
Konsumenten heranzüchten. Du verwirklichst dich in deiner Arbeit und
Vorwärtskommen ist für dich ein erstrebenswertes Ziel. Schön und
gut. Aber solche wie du sind es auch, die nicht nur produzieren und
zum Konsum anregen, sondern die Menschen und die Umwelt ausbeuten und
zerstören. Der Arme, der zufrieden unter seinem Baum hockt, ist kein
Kunde, bringt keinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt, verpestet aber
wenigstens nicht mit einem Auto die Luft.“
Martin
erwiderte:„Aber weil er kein ordentliches Zuhause hat und damit
auch kein Badezimmer, wie es sich gehört, kackt der Gute irgendwo
ins Gebüsch oder leert seinen Eimer über eine Böschung. Auch das
ist nicht gerade umweltfreundlich in einer Millionenstadt Wenn meine
Ziele die Arbeit und das Vorwärtskommen sind, meine Liebe, so muss
ich sagen, lebst du ganz gut dabei und bist froh, wenn du mit deinem
Zweitwagen die Luft verpesten kannst, wenn du zum Zigaretten holen um
die Ecke fährst.“
„Du
hast ja recht“, lenkte Esther ein. „Ich will damit ja bloß
sagen, dass wir unsere Wertmaßstäbe nicht so einfach übertragen
dürfen auf andere Länder und andere Menschen. Meine Putzfrau lebt
in einfachsten Verhältnissen, wäre vielleicht auch ganz zufrieden
damit, wenn die Werbefritzen ihr nicht immer einbläuen würden, was
sie alles haben muss zum Glücklichsein. Bis jetzt arbeitet sie sich
nicht tot, um sich all den Firlefanz zu leisten, ohne den wir glauben
nicht auskommen zu können. Die stirbt ganz sicher nicht an einem
Herzinfarkt, bei dem Schneckentempo und der Flatterhaftigkeit wie die
hier herum putzt. Ich kann die Frau gut verstehen, auch wenn es mich
ärgert, dass nichts vorwärts geht. Bei der Hitze kann man nur im
Schatten am Swimming- Pool liegen. Du wirst mit 50 Jahren deinen
ersten Herzinfarkt hinter dir haben und noch stolz darauf sein, dass
du dich so abgearbeitet hast, um es zu etwas zu bringen.“
„Wir
können ja morgen hier weg und unter einen Baum ziehen. Am Strand von
Itapua
stehen ein paar herrliche Palmen. Unseren ganzen Firlefanz, wie du es
nennst, schenken wir deiner Putzfrau“, sagte Martin. „Ich finde
es übrigens reizend von dir, dass du dich um meine Gesundheit
sorgst. Aber vielleicht könnten wir jetzt den Grill anwerfen und ein
paar ganz ungesunde Koteletten braten.“
Im
Laufe der Wochen wurden wir Zeugen manch hitziger Gespräche zwischen
den beiden, und wir begriffen ein wenig, wie schwierig es war,
angemessene Entwicklungshilfe zu leisten.
Puesta de sol en un embarcadero en Misericordia, Itaparica (Bahía, Brasil) https://commons.wikimedia.org/wiki/User:Immersia |
9
Die
Wochenenden vergingen wie im Flug, waren angefüllt mit menschlicher
Nähe, neuen Begegnungen und jeder Menge Betriebsamkeit. Das Leben
auf der Insel bildete den krassen Gegensatz dazu. Es gelang uns
nicht, Kontakte mit den Einheimischen zu knüpfen. Das Haupthindernis
war sicher die Sprache. Vor unserem Haus auf der Plaza
trafen sich die alten Männer des Dorfes. Sie ließen ihre Stühle
sogar nachts einfach auf dem Gehweg unter den Bäumen stehen. Bald
erwiderten sie unseren Gruß, aber zu Gesprächen kam es nie. Wir
versuchten es etwas verschämt mit unserem kleinen Sprachschatz, aber
sie wandten sich verlegen ab. Wir beließen es beim Gruß.
Unsere
Aktivitäten beschränkten sich auf die wöchentlichen Einkäufe auf
der Rückreise vom Festland, auf waschen, putzen und kochen. Die
Hitze lähmte unseren Unternehmungsgeist. Meistens hockte ich im Haus
herum und hing trüben Gedanken nach oder saß im Innenhof am Tisch
und legte Patiencen, während mein Willi seinen Liegestuhl im
Schatten unter dem Laubdach der Bäume auf der Plaza
aufstellte. Er ließ das Dorfleben an sich vorüberziehen, das
denkbar wenig Abwechslung bot. Bis eines Morgens an unsere Haustüre
ein Zettel geheftet war, auf dem ein Herz mit Pfeil gezeichnet war.
Auf der Türschwelle lag eine lachsfarbene Hibiskusblüte. Hatte ich
einen stillen Verehrer? Mein Willi schaute grantig auf die Blume, die
ich in einem Wasserglas auf den Frühstückstisch stellte. Das Herz
wanderte, sorgfältig zusammengefaltet, in meinen Rucksack. Wer war
wohl mein stiller Verehrer?
Ab
jetzt fand sich jeden Morgen ein Zettel an der Tür. Oft war nur ein
Herz darauf gezeichnet, manchmal auch sehr gekonnte
Bleistiftzeichnungen mit einfachen Landschaften, Blumen oder
zärtlichen Szenen. Immer lag eine Blume auf der Türschwelle. Ich
war entzückt, mein Willi zuerst nur etwas verärgert, mit jedem
Liebeszeichen jedoch aufgebrachter.
„Dem
Heini werde ich heimgeigen, wenn ich ihn erwische“, knurrte er.
„Wenn
du ihn erwischt“, sagte ich, nichts ahnend, dass er den „Heini“
eines Tages tatsächlich erwischen würde, ihm aber dann nichts
ferner lag, als diesem „heimzugeigen“.
Ab
jetzt saß mein Willi nur noch selten allein draußen. Ich hatte
meinen Stuhl neben den seinen gestellt. Das eintönige Inselleben
hatte Farbe bekommen. Würde ich herausfinden, wer mein stiller
Verehrer war?
Aufmerksam
betrachtete ich den nackten Rücken des jungen, sehnigen Fischers,
der meistens morgens mit einem anderen Fischer hier auf der Erde saß
und sein Netz langsam durch die Finger gleiten ließ. Die makellose
Haut spannte sich wie dunkelbrauner Samt über die Muskeln. Manchmal
sprachen die beiden, nie schaute er dabei von seiner Arbeit auf. Nie
würdigte er uns eines Blickes. War er der verliebte Träumer?
„Vielleicht
ist es einer von den alten Herren, der seinen vierten Frühling
erlebt“, sagte mein Willi boshaft. „Oder der kleine Trommler.“
Candomblé Itaparica
|
„Es
wäre mir eine hohe Ehre, mein Lieber, wenn ich des jungen Trommlers
Herz bezwungen hätte“, sagte ich zu meinem Willi, der daraufhin
nickte und recht ungalant äußerte:
„Das
wäre es auch, in Anbetracht dessen, dass du seine Oma sein
könntest.“
Es
gab viele wohlgewachsene, reizvolle Burschen in unserem Dorf, aber
nicht einer hatte mich je eines Blickes gewürdigt. Zwischen den
Dorfbewohnern und uns schien eine Wand zu bestehen. Man schenkte uns
keinerlei Beachtung, erwiderte unseren Gruß, wenn überhaupt nur
flüchtig. Mittelpunkt waren wir nur am späten Vormittag, wenn die
Schulmädchen auf dem Nachhauseweg über die Plaza
gingen. Sie drehten mindestens drei Runden um den Platz, gackerten
aufgeregt wie die Hühner, kicherten, warfen vielsagende Blicke und
manchmal auch kleine Steinchen auf meinen Willi, der sich verlegen
bemühte, die verrückte Meute zu übersehen.
„Die
Anhimmelei deiner Verehrerinnen ist abscheulich und über alle Maßen
peinlich“, sagte ich. „Da lobe ich mir das Zartgefühl meines
Liebhabers, der mein Herz mit Blumen und Zeichnungen erfreut und mich
nicht einmal durch aufdringliche Blicke in Verlegenheit bringt.“
„Ach
Geli, sei nicht so streng, du warst auch mal zwölf und schrecklich
albern“, sagte mein Willi. „Das ist gar nicht so lange her und
gar nicht so weit fort, und bricht sich hin und wieder mächtig
Bahn.“
Ich
schwieg gekränkt.
Nach
einer langen Weile fügte mein Willi hinzu: “Ich finde es schön,
mein Gelimädchen, dass du manchmal ganz jung sein kannst und
schwärmen, wie diese Küken und dann ganz furchtbar albern bist in
deinen Höhenflügen.“
Zärtlich
blickte er mich an.
10
In
der vorletzten Woche unseres Inseldaseins beschlossen wir, drei große
Kartons zu beschaffen und das Leergut wegzubringen.
„Mit
dem Flaschenpfand können wir uns für den Rest des Aufenthaltes mit
Lebensmitteln eindecken. Wir nehmen auch die Schachtel mit, die schon
gepackt unter der Treppe steht“, sagte ich, während wir den
dritten Karton mit einem Teil der Flaschen füllten, die sicher schon
seit Jahren hinten auf dem Hof lagen.
Mein
Willi scheute die Schlepperei.
Leere Flaschen Telrúnya https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en |
„Lili
freut sich sicher, wenn wir alles aufgeräumt haben und ihr außerdem
noch Geld bringen“, sagte ich.
Mein
Willi fügte sich ohne weiteren Widerspruch, aber sein Gesicht sprach
Bände, als er den vierten Karton zur Haltestelle geschleppt hatte,
wo der Bus unter lautem Hupen auf ihn wartete. Irgendwie hatte ich
dem Fahrer klarmachen können, dass noch ein Karton und der Träger
fehlten.
Mein
Willi schwieg verbissen, als ich ihn aufmuntern wollte.
„Das
Schlimmste ist geschafft“, sagte ich. “Nachher rufen wir einen
Jungen, der uns die Kartons mit einem Wagen in den Laden bringt. Und
jetzt setz bitte ein anderes Gesicht auf.“
„Das
ist das einzige Gesicht, das ich habe“, knurrte mein Willi. „Wenn
es dir nicht passt, schau halt weg.“
Ich
schaute weg.
Im
Supermarkt. Wir gaben die Flaschen an einem Leergutschalter ab,
erhielten einen Zettel, auf dem Typ und Anzahl der Flaschen vermerkt
war. Dann füllten wir unseren Wagen, zum letzten Mal, bis oben hin
voller Waren. Flink registrierte eine rassige Schöne unsere Waren an
der Kasse, genauso flink packte einer der Jungen das Zeug in Kartons.
Als es ans Zahlen ging, gab ich ihr den Gutschein des Leerguts. Sie
tippte etwas in die Kasse ein und wollte dann einen Haufen Geld.
„Willi“,
sagte ich, „das kann nicht sein. Die hat uns das Flaschenpfand
nicht abgezogen. Ich habe es daheim schon überschlagen, und wir
müssen nicht nur nichts bezahlen, sondern kriegen noch einiges
wieder bar auf die Hand.“
Mein
Willi rieb sich den Nasenrücken und starrte gebannt auf den Betrag
den die Kasse anzeigte. Die rassige Schöne starre meinen Willi an.
In meinem Kopf ratterten die Zahlen.
„Willi,
das kann niemals sein.“
Mein
Willi erwachte aus seiner Erstarrung und tippt freundlich lächelnd
auf den Leergutschein. Die rassige Schöne lächelte freundlich
zurück, nickte, dass ihr rotes Häubchen ins Schwanken geriet und
wies mit dem Finger auf den Kassenbetrag. Mein Willi deutete auf die
Anzahl der abgegebenen Flaschen und auf die paar, die wir eben
gekauft hatten und versuchte der rassigen Schönen mit Händen,
Grimassen und unserem sehr lückenhaften Portugiesisch die
offenkundige Differenz aufzuzeigen. Wieder nickte die rassige Schöne
und zeigte auf den Kassenbetrag.
„Sag
mal“, sagte mein Willi und funkelte mich wütend an, „Ist die auf
den Kopf gefallen oder ist das ihre Art, Ausländer reinzulegen?“
Er
riss den Beleg über die abgegebenen Flaschen an sich, hielt ihn der
Rotbehaubten vor die Nase und haute mit dem Handrücken darauf.
„Da!
Vierzig Limonadenflaschen, eh! Gekauft habe ich aber nur fünf. Und
der Rest?“ Mein Willi war geladen wie eine Bombe. “Und da!
Dreißig Literflaschen Bier! Dreißig Literflaschen Mineralwasser!
Fünf Literflaschen Limonade. Ich habe das doch nicht hergeschleppt,
dass Sie mich jetzt über den Tisch ziehen.“
All
das hatte er halb in Portugiesisch, halb in Deutsch über die Schöne
ausgeschüttet, die aufgeregt auf einem Knöpfchen herumdrückte und
Hilfe heischend um sich blickte. Sekunden später kam, auf
Rollschuhen den langen Gang entlang, eine andere Rotbehaubte lautlos
geglitten. Mein Willi trug ihr, um Fassung bemüht, die Tatsachen
vor. Nach einem kurzen Redeschwall drückte sie ihm den Kassenzettel
in die Hand und deutete auf den Endbetrag. Ich schwitzte Blut und
Wasser. Die Frau, die hinter mir stand, haute ihrem kleinen Mädchen
auf die Finger, weil es Kaugummi, Schokolade und Rasierklingen aus
dem Kassenregal in den Wagen lud. Zwei andere Frauen drängten sich
mit ihren Einkaufswagen heran, um zu sehen, was es hier für einen
Spektakel gab. Der Junge, der vor den verpackten Kartons auf seinen
Einsatz wartete, hüpfte von einem Fuß auf den anderen.
„Geli,
das lassen wir uns nicht bieten“, stieß mein Willi hervor und rief
nach dem Geschäftsführer.
Die
auf Rollschuhen entglitt lautlos. Kurz darauf näherte sich ein Herr
im weißen, gestärkten Kittel gemessenen Schrittes. Mit ernster
Miene hörte er meinem Willi zu, der nun schon Übung hatte und den
Sachverhalt gekonnt und flüssig schilderte. Er verzog auch keine
Miene, als mein Willi seinen, mit Gesten anschaulich unterstrichenen
Vortrag, beendet hatte und hilflos in die Runde schaute. Die Frau
hinter mir hatte ihr kleines Mädchen unter den Arm geklemmt und
redete nun ihrerseits auf den Geschäftsführer ein. Seine Miene
erhellte sich und man sah ihm und der Kassiererin an, dass der
Groschen gefallen war. Nun redeten alle gleichzeitig auf uns ein.
Wir
verstanden kein Wort. Irgendwann verebbte der Redeschwall jedoch und
die Frau mit dem zappelnden, kleinen Luder unter dem Arm, welches nur
durch ständige Klapse im Zaum gehalten werden konnte, erklärte uns
langsam in einem bunten Kauderwelsch aus Portugiesisch, Englisch und
Spanisch, dass die Flaschen uns gehörten. Das war ja eigentlich
nichts Neues. Erst nach und nach dämmerte uns die Erkenntnis, dass
die Flaschen auch unser Eigentum bleiben würden. Auf immer. Man kann
nur die Art und Menge der Flaschen abgeben, die man gerade kauft.
Eine Rückgabe von Leergut und Erstattung des Pfandes ist nicht
möglich. Wir hatten uns wochenlang mit kleinen Limonadeflaschen
eingedeckt, die dreimal so teuer waren, wie der Inhalt und waren nun
dämliche Besitzer von 40 ockergelben, lustig gerillten Flaschen.
Der
Rest ist schnell erzählt. Die Kartons mit den Lebensmitteln wurden
wieder ausgepackt. In Erwartung der hohen Pfandrückzahlung hatten
wir nur wenig Geld mitgenommen. Es reichte nicht einmal für das
Allernötigste. Ein junger Mann packte uns Lilis fünfundsechzig
leere Flaschen wieder ein. Unsere vierzig schenkten wir großzügig
der Supermarktkette.
„Wir
hätten sie ihnen vor die Tür kippen sollen“, sagte mein Willi,
als wir wenig später auf dem Heimweg waren.
„Leider
ist man ein zivilisierter Mensch“, fügte er nach zehn Kilometer
Schweigen hinzu. Ich verstand ihn so gut.
11
An
unserem letzten Inselmorgen hatte sich der Himmel sein grauseidenes
Kleid mit anthrazitfarbenen Wolkenfetzen angelegt. Uns war es recht,
wenn die Sonne daheim blieb, während wir mit Sack und Pack auf das
Festland zogen, um mit Lili und Victor Abschied zu feiern.
Außer
einem Stück unseres Herzens blieb auch meine Spiegelreflexkamera auf
der Insel zurück. Eines Tages hatte sie ihren Geist aufgegeben, und
ich glaubte, dass ich ihr mit meinem Taschenmesser wieder auf die
Sprünge helfen könne. Dabei schnitt ich mir fast einen Teil des
Daumens ab, als das rasiermesserscharfe Werkzeug durch meine
unsachgemäße Behandlung plötzlich zusammenklappte. Es folgte ein
kleines Blutbad, ein großer Mullverband, tagelange Schmerzen. Sollte
meine Kamera je noch eine Lebenschance gehabt haben, in den nun
folgenden Tagen verspielte ich sie mit immer neuen und immer
verbisseneren Eingriffen in ihr feines Innenleben. Trotzdem hätte
ich sie, als Abschluss meiner Manipulationen, besser nicht im hohen
Bogen ins Meer schmeißen, sondern lieber in eine Werkstatt bringen
sollen. Vielleicht wäre doch noch etwas zu machen gewesen. Für
solche Überlegungen war es zu spät. Sie verrottete auf sandigem
Grund.
Cacha Pregos Beach
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Wir
hatten unsere Habseligkeiten gepackt, ein letztes Mal geputzt und
waren zum Abschied noch einmal durch alle Räume gegangen, hatten die
Läden und schließlich auch die Haustüre verschlossen. Die Spinnen
konnten wieder im Haus Einzug halten und die Ratten den Hof
bevölkern, der blonde Gringo
und seine Gringa
zogen ab.
Die
Plaza
lag ausgestorben da, bis auf ein paar Spatzen, die geschäftig im
Kies herum pickten und einem klapperdürren Straßenköter, der sein
Bein an einem geparkten Lieferwagen hob, nachdem er ausführlich alle
vier Reifen beschnüffelt hatte. Wir ließen unser Gepäck auf dem
Gehweg liegen und gingen die paar Schritte zum Strand. Bleigrau lag
das Meer unter dem niedrigen Himmel; ein frischer Wind blies uns in
die Gesichter.
„Keiner
wird uns nachweinen“, sagte ich zu meinem Willi. „Sogar mein
Liebhaber hat mich seit Tagen vergessen. Außer einem sauberen Haus
haben wir auf der Insel keine Spuren hinterlassen. Ist das nicht
traurig? Selbst die werden bald vom Staub, den Spinnweben und dem
Mäusedreck verwischt sein. So ist das Leben. Du kommst, bleibst eine
Weile und gehst wieder. Weißt du, Willi, mir ist es wichtig, Spuren
zu hinterlassen in den Herzen der Menschen. Das haben wir hier im
Dorf nicht, ja wir haben uns nicht einmal darum bemüht.“
Mein
Willi schaute auf das Meer hinaus und rieb sich den Nasenrücken.
„Geli,
was hätten wir machen sollen?“
„Ich
weiß es nicht. Nun ist es eh zu spät.“
Beladen
wie Esel trotteten wir durch die Gasse zur Bushaltestelle. Der Duft
nach frisch gebackenem Brot zog durch die Luft, nach Kümmel, Tang
und Salzwasser. Mein Blick wanderte über die etwas schäbigen,
inzwischen so vertrauten Fassaden der Häuser und blieb an einem
kaffeebraunen, sehr jungen Mädchen hängen, das uns, an einen
Fensterrahmen gelehnt, entgegen blickte. Sie trug ein ärmelloses,
giftgrünes Kleid, das Kraushaar umrahmte in lustigen Locken das
runde, noch kindliche Gesicht. Sie war nicht besonders hübsch, aber
mich fesselte der Ausdruck ihrer schwarzen Augen. Für einen kurzen
Moment sah ich sie freudig aufblitzen, dann aber in fassungslosem
Begreifen sich verdüstern. Das kleine Gesicht verzog sich voller
Qual. Als wir ganz dicht an ihr vorbeigingen, sah ich wie zwei dicke
Tränen über ihre Wangen kullerten. Mein Willi verhielt seinen
Schritt einen winzigen Augenblick, direkt unter dem Fenster, lächelte
zu dem Mädchen hinauf und flüsterte auf Deutsch:
„Leb
wohl, kleines Mädchen.“
Aufschluchzend
schlug sie sich die Hände vor das Gesicht und stürzte vom Fenster
fort. Ich schaute meinen Willi erstaunt an. Noch ehe ich etwas sagen
konnte, sah ich, wie er von einem Laib Brot am Kopf getroffen wurde.
Es folgten zwei Brötchen, die aber am Rucksack abprallten, und eine
schrille Schimpftirade aus dem Mund einer fetten, kleinen Frau, die
sie uns aus eben jenem Fenster nachschickte, als wir uns eilig
bemühten, Abstand zu gewinnen.
„Könntest
du mir mal sagen, was das alles zu bedeuten hat?“ fragte ich, als
wir uns in Sicherheit gebracht hatten. „Was hast du mit dem Mädchen
und was hat die alte Vettel mit dir?“
„Später,
Geli, später“, sagte er und ging mit großen Schritten voraus.
Erst
viel später, nämlich als wir an die Reling gelehnt, die grüne
Küste der Insel entschwinden sahen, sagte mein Willi:
„Nun
hat uns doch jemand nachgeweint.“
Dann
erzählte er mir, wie er vor ein paar Tagen sehr früh aufgewacht sei
und sich eine Weile ans Fenster gestellt habe.
„Es
war noch dämmerig und kein Mensch unterwegs“, sagte er, „als ich
plötzlich unter mir eilige Schritte hörte. Ich beugte mich vor, um
zu sehen, wer da so früh schon unterwegs war und sah das kleine
Mädchen von vorhin. Sie legte eine Blume auf die Türschwelle und
schob hastig einen Zettel unter der Tür durch. Ich wollte mich eben
unbemerkt ins Zimmer zurückziehen, als sie den Blick hob. Ich weiß
nicht, wer sich ertappter fühlte, sie oder ich. Wie von Furien
gejagt rannte sie davon. Seither lag keine Blume und kein Zettel mehr
da.“
„Also
hat mich mein Liebhaber gar nicht vergessen, sondern es hat nie einen
gegeben“, sagte ich und ärgerte mich, weil ich spürte, wie sich
meine Augen mit Tränen füllten.
Mein
Willi legte mir den Arm um die Schulter und schmunzelte. Ich starrte
hinab auf das Wasser, wo kurz unter der Oberfläche große Quallen
trieben. Das Schiff hob und senkte sich mehr als sonst auf der
kabbeligen See. Die Bugwelle stob schäumend unter uns weg, und der
Wind verwehte die Gischt wie weiße Schleier über das graue Wasser.
Der
Hafen kam näher, deutlich sah ich schon die Anlegestelle, wartende
Menschen, Autos. Mit einem Mal waren mir die Zeit auf der Insel, der
Abschied und die Tatsache, dass ich wirklich keine Spuren
hinterlassen hatte, völlig gleichgültig. Wieder lag die ungewisse
Zukunft als einzige Tatsache vor mir, wuchs die Angst ins
Ungeheuerliche und benahm mir fast den Atem. Wo würde ich mein
nächstes Heim finden? Unter welchem Baum, auf welcher Insel, an
welchem Gestade?
12
Lili
und Victor waren mit uns aufs Land gefahren. In einem Restaurant am
Strand aßen wir uns ein letztes Mal durch die leckere Palette der
bahianischen Küche. Der Kellner verteilte eine Reihe von kleinen und
großen Schüsseln auf dem Tisch. Victor begann unverzüglich,
freundlich, aber bestimmt mit ihm zu verhandeln, deutete dahin und
dorthin. Schließlich nahm der Kellner die bezeichneten Gefäße
wieder mit und brachte sie kurz darauf bis obenhin gefüllt wieder
zurück. Victor nickte zufrieden und die Mahlzeit konnte beginnen.
Während wir Fleischbällchen, Reis, schwarze Bohnen, Fische mit und
ohne Soßen und Hähnchenfleisch, alles überstäubt mit farina,
in uns hinein schaufelten, zerrann der Tag zwischen den fernen
Hügeln. Als wir beim Kaffee angelangten, war die Dämmerung dem Tag
gefolgt, und die Nacht zog den Vorhang auf für das alte, immer neue
Schauspiel des Sternenreigens.
Die
Unterhaltung der anderen glitt an meinen Ohren vorbei. Ich schaute
hinaus in die Finsternis, jenseits des Lichtkreises der bunten
Laternen, die zwischen den Palmen aufgehängt waren, und lauschte der
leisen, rhythmischen Musik, die aus dem Inneren des Restaurants
sickerte. Ich bohrte meine nackten Zehen in den feinen, noch
sonnendurchwärmten Sand und hätte am liebsten die Zeit angehalten.
Später stand ich auf, ging dem An- und Abschwellen der Brandung dort
in der Dunkelheit entgegen und setzte mich in den Sand.
Entardecer- Praia do Forte
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Morgen
um diese Zeit würden wir im Bus nach Süden unterwegs sein. Eine
schier endlos lange Fahrt von fast 6000 Kilometern lag vor uns, bis
wir in Los Abedules ankommen würden. Ab Rio hätten wir wieder unser
ganzes Gepäck und das viele Bargeld. Man hatte uns erzählt, dass
nachts oft die Überlandbusse überfallen werden, besonders
gefährlich sei es zwischen Rio und Sao Paulo. Die Fahrzeuge werden
zum Halten gezwungen, die Passagiere müssen sich nackt ausziehen,
alles abgeben und die Diebe verschwinden im Handumdrehen mit ihrer
Beute. Die Vorstellung, nach einem Raubüberfall splitterfasernackt
und völlig mittellos irgendwo am Wegrand zu hocken, ließ mir das
Blut in den Adern gefrieren.
Victor
kam und legte sich wortlos neben mich in den Sand. Er verschränkte
die Arme hinter dem Kopf und schaute zu den Sternen empor. Wir
schwiegen lange, bis Victor ganz langsam auf Deutsch sagte:
„...Der
Wolken, Luft und Winden
gibt
Wege, Lauf und Bahn,
der
wird auch Wege finden,
da
dein Fuß gehen kann…
Ich
habe es extra für dich auswendig gelernt“, fügte er leise lachend
hinzu. „Du musst mir jetzt helfen, ich habe den Anfang vergessen.“
Gemeinsam
sprachen wir die erste Strophe des alten Liedes, das Paul Gerhard im
siebzehnten Jahrhundert geschrieben hatte.
„Befiehl
du deine Wege
und
was dein Herze kränkt,
der
allertreusten Pflege,
des
der den Himmel lenkt.
Der
Wolken, Luft und Winden
gibt
Wege, Lauf und Bahn,
der
wird auch Wege finden,
da
dein Fuß gehen kann.“
„Hast
du Angst?“ fragte mich Victor.
„Ja,
ich fürchte mich vor der Fahrt, ich fürchte mich vor dem Ankommen
und ich fürchte mich vor dem Dort sein. Ich fürchte mich vor dem
morgen und möchte am liebsten heim, in meine alte Sicherheit“,
sagte ich in einer Mischung aus Spanisch und Portugiesisch. „Ich
weiß nicht, wo ich leben werde und wovon. Keine Ahnung wie alles
werden soll. Es ist wie ein Tanz auf dem Drahtseil, aber ohne
Sprungnetz.“
Als
ich schwieg, spürte ich, dass Victor etwas sagen wollte, ich fühlte
wie er mit seinem kleinen Vokabel-Schatz rang. Schließlich sagte er:
„Mach
dich nicht verrückt. Befiehl du deine Wege...“ und er sagte mir
noch einmal die ganze Strophe vor, fehlerlos und ganz feierlich. „Und
jetzt denk mal an die zweite Strophe. Ich kann sie nur auf
Portugiesisch. Sag mir mal den letzten Teil auf Deutsch vor.“
Ich
sagte nach kurzem Nachdenken:
„Mit
Sorgen und mit Grämen
und
selbstgemachter Pein
läßt
Gott sich gar nichts nehmen,
es
muss erbeten sein.“
„Siehst
du“, sagte Victor und drehte sich auf den Bauch.
Jeder
hing stumm seinen Gedanken nach. Nach einer Weile sprang Victor auf,
klopfte sich den Sand von den Kleidern und aus den Haaren, dann
reichte er mir die Hand und zog mich auf die Beine.
„Mutig
vorwärts“, sagte er.
Wir
gingen zurück zu den anderen.
Am
Spätnachmittag des nächsten Tages war es dann soweit. Mit vielen
guten Wünschen, Umarmungen und Küssen der ganzen Verwandtschaft
ausgerüstet, nahmen wir Abschied von der Stadt Salvador und unseren
Freunden. Als der Bus den Terminal verließ, rannten Lili und Victor
nebenher und winkten. An der ersten Ampel holten sie uns ein, warfen
uns Kusshände zu und wischten sich die Tränen vom Gesicht. Sie
riefen uns noch etwas zu, als der Bus weiter fuhr, aber wir konnten
sie nicht mehr verstehen. Wir steckten die Köpfe aus dem Fenster und
winkten mit unseren Taschentüchern, bis wir die beiden Gestalten im
Verkehrsgewühl aus den Augen verloren. Lili hatte mir im letzten
Moment vor dem Einsteigen einen schweren Beutel in die Hand gedrückt,
den ich nun neugierig öffnete.
„Cashew-
Nüsse“, sagte ich gerührt und würgte an dem Kloß, der mir die
Kehle schnürte.
Lili
wusste, wie gerne ich sie aß. Sie waren für unseren schmalen
Geldbeutel unerschwinglich. Lili hatte mich für viele Tage
eingedeckt mit diesem Leckerbissen. Jede einzelne Nuss schmeckte nach
Liebe.
13
Wir
unterbrachen unsere Reise in Ouro Preto, das heißt „schwarzes
Gold“.
Die alte Kolonialstadt wurde von den Vereinten Nationen zum „Erbe der Menschheit“ erklärt. Wir schlenderten bergauf und bergab durch die alten, gepflegten Gassen, besichtigten unzählige Barockkirchen und das alte Opernhaus, bewunderten die eleganten Auslagen der Schmuckgeschäfte, beobachteten die Goldschmiede bei ihrer Arbeit, krochen in eine stillgelegte Mine und schauten in Mariana den Goldwäschern im Fluss bei ihrem harten, so wenig einträglichen Geschäft zu.
Night view of Downtown in Ouro Preto/MG/BR. Leo Benini https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en |
Die alte Kolonialstadt wurde von den Vereinten Nationen zum „Erbe der Menschheit“ erklärt. Wir schlenderten bergauf und bergab durch die alten, gepflegten Gassen, besichtigten unzählige Barockkirchen und das alte Opernhaus, bewunderten die eleganten Auslagen der Schmuckgeschäfte, beobachteten die Goldschmiede bei ihrer Arbeit, krochen in eine stillgelegte Mine und schauten in Mariana den Goldwäschern im Fluss bei ihrem harten, so wenig einträglichen Geschäft zu.
Petrópolis.
Jochen empfing uns mit offenen Armen und verabschiedete sich vier
Tage später mit mühsam unterdrückter Rührung von uns.
„Was
auch immer sein mag, hier habt Ihr immer ein Bett und ein Stück
Brot“, sagte er. „Viel Glück in der neuen Heimat. Schreibt hin
und wieder, wie es euch geht.“
Ein
kurzer Besuch bei Julia und Antonio, die uns mit guten Wünschen
überschütteten.
Und
dann waren wir wieder unterwegs auf unbekannten Straßen, auf dem Weg
in unsere Zukunft.
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