Irgendwo in Patagonien
Irgendwo in Patagonien |
1
Meine
Abenteuergelüste waren nach drei Monaten Rucksackschlepperei und
Staubschlucken im wilden Patagonien vorläufig gestillt. Mein Willi
dagegen war nun erst richtig auf den Geschmack von Freiheit und
Abenteuer gekommen. Mehr denn je träumte er vom Auswandern.
„Wir könnten ja an den Bodensee ziehen“, schlug ich vor.
Mein
Willi war nicht abgeneigt. Er bemühte sich einen ganzen Sommer lang um
einen Arbeitsplatz am Schwäbischen Meer, aber keiner brauchte dort einen
Maschinenbau- Techniker.
„Vielleicht tut es der Schwarzwald genauso?“, regte ich an.
Aber
auch dort fand sich kein Posten. Wenn schon nicht Südamerika, Bodensee
oder Schwarzwald, dann wenigstens raus aus der Stadt, egal wohin,
darüber waren wir uns einig.
Jedes
Wochenende kutschierten wir im Ländle herum und besichtigten
Ortschaften, Häuser und Wohnungen. Entweder stimmte die Lage nicht oder
der Preis oder die Entfernung zum Bürosessel. Es war zum Verzweifeln.
Parallel
dazu suchte ich zielstrebig in und um Stuttgart nach geeigneten Räumen
für eine Naturheilpraxis. Wenn schon mein Willi völlig verstrickt war in
seine existentielle Unzufriedenheit und schließlich gar nicht mehr
wusste, was er wollte, so war es mir jedenfalls sonnenklar, dass ich
unbedingt eine eigene Praxis haben wollte.
Eines
schönen Tages entdeckte ich sie: Die Traumpraxis! Mitten im Zentrum
einer gemütlichen Kleinstadt im Neckartal, mit Blick auf die umliegenden
Weinberge. Das alte Haus war renoviert, sehr gepflegt, die Räume hell
und groß. Es handelte sich um ein ganzes Stockwerk, mit so vielen
Zimmern, dass wir dort bequem auch wohnen konnten. Es war genau das, was
ich mir immer vorgestellt hatte: Ländlich und doch in Großstadtnähe,
repräsentativ und doch bezahlbar, zentral und doch ruhig und mein Willi
könnte sich schon nach zehn Minuten Fahrt in seinem ergonomischen
Bürosessel räkeln.
„Ich
spreche mit meinem Mann und gebe Ihnen morgen Bescheid“, sagte ich zu
der Hauswirtin, als wir die frisch gebohnerten Treppen hinuntergingen.
Wir verabschiedeten uns, und ich war selig, meinem Ziel so nahe zu sein.
Als
ich in den gleißenden Sonnenschein hinaustrat, blieb ich einen
Augenblick stehen und ließ den Blick schweifen. Gegenüber war eine
Bäckerei, daneben eine Boutique mit Kindermoden, an der Ecke ein
Lebensmittelgeschäft, lauter stilvoll renovierte Häuser rechts und
links. Ein Stück weiter der Kleinstadtbahnhof, alles wie aus dem
Baukasten. Unweit schwangen sich die Rebenhänge steil hinan, darüber
lachte der blaue Himmel. Es war still auf der Straße, denn es war Zeit
für das Mittagessen und der Duft nach Suppe lag in der Luft. Flädles – Subb, auf
der Schnittlauchröllchen schwammen, kam mir flüchtig in den Sinn, wurde
aber schnell überlagert von den Bildern meiner Zukunftsvision.
Jahre-
oder jahrzehntelang würde ich jeden Tag hier aus- und eingehen. Diese
blitzblank gewienerte Treppe, mit dem Geruch nach Bohnerwachs würde ich
hinauf- und hinuntersteigen, Tag für Tag. Bei Sonne und Regen auf diese
Straße schauen, winters den einheitsgrauen Himmel anstarren, mich im
Frühling an den Forsythien im Hof erfreuen, an lauen Sommerabenden durch
das geöffnete Fenster dem Abendlied der Amsel lauschen und im Herbst
den Regentropfen zusehen, wie
sie langsam über die Fensterscheiben hinab rinnen. In ein paar Jahren
würde das Geld reichen für ein kleines Reihenhaus mit winzigem
Vorgärtchen irgendwo in einer Neubausiedlung. Zwei- oder dreimal im Jahr
würde ich ein paar Tage nach Griechenland fliegen oder im Gardasee
baden.
An
eine lange Reise, wie die drei Monate Patagonien, war nicht zu denken,
denn eine Praxis kann man nicht nach Belieben schließen und die
Patienten ihrem Schicksal überlassen. Nach einem letzten Blick auf die
Rebenhänge schlug ich hastig den Weg zum Bahnhof ein. Mit einem Schlag
war das Bankkonto, die gefüllte Haushaltskasse, der gut gedeckte Tisch
nichts wert, die Freiheit alles!
„Soll
ich mit 37 Jahren in diesem biederen Nest versauern? Das reicht in 10
Jahren immer noch“, schleuderte ich meinem Willi an den Kopf, kaum dass
er abends die Wohnung betreten hatte.
„Dann sind wir uns ja einig“, sagte er, stellte seine Aktenmappe in der Garderobe ab und schlüpfte in seine Filzpantoffel.
Ich
überschüttete ihn mit meinem Bericht über die Praxis-Besichtigung,
während er sich eine Flasche Bier aus dem Eisschrank holte. Als ich Atem
schöpfte, kratzte er sich erst am Kopf und rieb sich dann die
Nasenwurzel, wie immer wenn er sich einer Sache nicht ganz sicher war.
„Du meinst also tatsächlich, wir sollten auf und davon?“, meinte er zögernd.
„Ich dachte, du wolltest nichts anderes“, erwiderte ich.
Paso Cordoba Provinz Neuquen |
Wir
redeten bis weit in die Nacht und beschlossen, die nächsten zwei Tage
nicht mehr über das Thema zu sprechen und uns dann noch einmal
zusammenzusetzen, um einen Beschluss zu fassen. Drei Tage später
schrieben wir in unser Familientagebuch: Auf und davon. Wir wandern aus
nach Patagonien.
2
Zunächst
schien der Papierkram unüberwindlich. Mehrere Male machten wir uns auf
den Weg zum argentinischen Konsulat nach Frankfurt, bis wir endlich alle
erforderlichen Formalitäten erfüllt hatten. Man bereitete uns auf eine
längere Wartezeit vor.
Wir
sammelten mittlerweile allerlei Wissenswertes über Argentinien. Uns
fiel auf, wie wenig man damals in Deutschland von den Vorgängen in
diesem Land hörte. Ab und zu lasen wir das „Argentinische Tagblatt“,
eine deutschsprachige Wochenzeitung aus Buenos Aires, die im Lesesaal
des Instituts für Auslandsbeziehungen auslag. Eine Hyperinflation hatte
die eh schon schwer angeschlagene Wirtschaft aus den Angeln gehoben. Wer
jedoch Dollar in der Tasche hatte, den brauchte das wenig zu kümmern,
denn parallel zu den utopischen Preissteigerungen, stiegen die
Wechselkurse der harten Währungen.
Jedermann fragte uns: „Was wollt ihr denn in Argentinien arbeiten?“
Wir
träumten von einer Frühstückspension im Grünen, von kleinen Gruppen aus
Deutschland, mit denen wir Patagonien erleben wollten. Ich bereitete
mich dafür in einem Kurs für Reiseleiter vor.
Wir
wollten unser Haus selber bauen, einen großen Gemüsegarten anlegen,
üppige Blumenrabatten um das Haus haben und Schafe, eine Kuh, Hunde,
Katzen, Hühner und Hasen und was weiß ich noch alles. Brot wollte ich
selber backen und Gsälz (Marmelade) einkochen und sonntags im Schatten
eines Baumes am Kaffeetisch mit meinem Willi den Nachmittag genießen.
Ich sah im Geist das geblümte Tischtuch meiner Kindheit, das gute
Porzellan, das uns Vater zur Hochzeit geschenkt hatte, eine Vase mit
einem Feldblumenstrauß, Himbeertorte, und duftenden Kaffee in der
bauchigen Kanne. Das war eines meiner Lieblingstraumbilder.
Andere
Male sah ich mich in meiner gemütlichen Bauernküche das frisch
gebackene Brot aus dem Backofen holen. Die Morgensonne scheint auf den
fürstlich gedeckten Tisch, an dem mein Willi fröhlich strahlend das
Zwetchgenmus und Bräschtlingsgsälz (Erdbeermarmelade) fingerdick auf die
knusprigen Brotschnitten schmiert. Ich stellte mir vor, wie ich in
derselben Küche im goldenen Licht der Abendsonne Kräuter hacke, Erbsen
aus puhle, grüne Bohnen schnipple oder Johannisbeeren abzupfe.
Mein Willi schwärmte vom Holzhacken und Roden, vom Maurern und Schreinern, und vom „sein eigener Herr sein“.
Wir
notierten unsere Pläne in unserem Tagebuch, stellten Kostenvoranschläge
auf, machten Checklisten, was wir in Stuttgart noch alles erledigen
wollten. Unsere Köpfe rauchten über den ellenlangen Aufstellungen der
Gründe, die für einen Umzug sprachen oder dagegen. Sollten wir die
Wohnung wirklich ganz aufgeben oder lieber an einen Studenten möbliert
vermieten?
Ich
verbrachte ganze Tage in den verschiedenen Bibliotheken der Stadt und
wälzte Bücher über Hühnerhaltung und Schafzucht, über das Anlegen eines
Zier- und Gemüsegartens, über das Haltbarmachen von Früchten und
Gemüsen. Ich füllte dicke Notizbücher mit all diesen Informationen.
Stundenlang
blätterte ich in Zeitschriften für den Selfmade- Mann. Daheim stapelten
sich die Bücher über das Bio-Haus, den Bau von Blockhütten, gesundes
Wohnen auf gestampften Lehmböden und eben all die einschlägigen
Ratgeber. Beim Lesen wurde mir klar, dass für unser Haus nur ein
Grasdach in Frage kam. Außerdem plädierte ich leidenschaftlich für eine
mobile Latrine. Man könnte später die Grube als Pflanzloch für einen
Obstbaum benutzen. Mein Willi machte sich dagegen stark für ein
herkömmliches Badezimmer mit fließend Warm- und Kaltwasser. Völlig einig
waren wir uns jedoch, dass wir einen offenen Kamin haben wollten.
Lagerfeuerromantik daheim, bei jedem Wetter und vom Sessel aus. Außerdem
wollten wir darin die Schinken unserer Schweine räuchern.
Unsere Gefühle schwankten häufig zwischen Kühnheit und Kleinmut.
„Solange ich nicht gekündigt habe“, sagte mein Willi oft, „können wir uns das ja immer noch überlegen.“
Andere
Male konnten wir es kaum erwarten, aufzubrechen und unsere romantischen
Höhenflüge vom einfachen Leben auf dem Land kannten keine Grenzen.
Nationalpark Los Alerces/ Provinz Chubut |
3
Dann ging alles ganz schnell. Das argentinische Konsulat rief an; unsere unbefristete Aufenthaltsgenehmigung lag vor. Was sollten wir tun? Es war April, also Herbst auf der Südhälfte des Globus.
„Wenn ich zum Quartalsende kündige, treffen wir mitten im Winter in Los Abedules ein“, gab mein Willi zu bedenken.
Wer
steht schon gerne im fremden Land und mitten im kalten Winter auf der
Straße. Aber noch ein halbes Jahr warten? Das wollte mein Willi nun auf
gar keinen Fall. Kurzerhand beschlossen wir, für drei Monate nach
Brasilien zu gehen. Sonne, Strand, Palmen, exotische Früchte, am
Lagerfeuer gebratene Fische und alles billig, das war so unsere
Vorstellung. Ausspannen nach dem grauen Alltag und vor dem
bunten Abenteuer. Unsere Hausärztin war sehr dafür, denn beide zeigten
wir allerlei Stresssymptome. Tatsächlich hätte uns ein bisschen Ruhe gut
getan, aber es sollte anders kommen. Bevor wir jedoch zu unseren
Traumstränden aufbrechen konnten, mussten wir noch viel Arbeit
bewältigen.
Unser
Haushalt musste aufgelöst, ein Nachmieter gefunden, allerlei
Persönliches geregelt werden. Die kommenden Monate waren ein Wettlauf
gegen die Zeit. Fast täglich mussten wir kleine Entscheidungen von
großer Tragweite fällen. Nichts durfte vergessen werden. Kaum hatte mein
Willi seinen Arbeitsplatz gekündigt, wurde er von furchtbaren Zweifeln
geplagt, ob das richtig war, ob er das überhaupt wollte.
„Dieses
Herumgrübeln hat jetzt sowieso keinen Zweck mehr. Wir müssen die Flucht
nach vorn antreten“, sagte ich zu ihm, während er mit dem
Nasenwurzelreiben gar mehr aufhörte. Auch mir war oft sehr bang ums
Herz.
Ein
netter Student übernahm unsere Wohnung mitsamt dem Inhalt und legte uns
aus lauter Dankbarkeit einen Tausender zu der geforderten Summe drauf.
Wir hatten uns gegen einen Umzug entschieden, weil es sehr teuer
gekommen wäre.
„Wir kaufen alles neu. In Argentinien ist es spottbillig, wenn du mit Dollars kommst“, sagte ich allen, die es wissen wollten.
Nur
ein paar wenige, besonders erinnerungsträchtige Stückchen, Omas Töpfe,
unsere Schallplatten, die Dias eines ganzen Lebens und das gute
Porzellan landeten bei meinem Vetter auf dem Dachboden. Auf einem
Flohmarkt nahmen wir Abschied von vielem, was wir später bitter nötig
gebraucht hätten. Manches verschenkten wir im Kreis unserer Bekannten.
Eine unserer Federdecken wollten wir einem Freund nach Spanien schicken.
Um sie platzsparend zu verpacken, stopften wir sie in schweißtreibender
Arbeit in eine alte Reisetasche. Hatten wir die Decke an den Seiten
endlich drinnen, quoll sie wild buckelnd in der Mitte wieder heraus;
hatten wir sie dort mühselig hinein gequetscht, bauschte sie sich rechts
und links. Wir hätten zehn Hände brauchen können, um das Federbett zu
bändigen. Als wir nach langem Hin und Her und unter wüsten Flüchen den
Reißverschluss glücklich zugezogen und das Kopfkissen in die
Seitentasche gewürgt hatten – versuche es einmal selber, lieber Leser-
sagte mein Willi keuchend und mit krebsrotem Gesicht:
„Der Schlag soll mich treffen, wenn ich das Ding, jetzt wo es so gut verstaut ist, nach Spanien schicke.“
Dafür
bin ich meinem Willi noch heute dankbar, wenn ich in kalten
Winternächten warm und geborgen unter dem Federbett liege, während er
sich mit mehreren Wolldecken abplagen muss, die alle ein reges
Eigenleben zu haben scheinen. Hätte ich bloß nicht so voreilig einer
Freundin die andere Daunendecke geschenkt. Kleider, Werkzeuge, Schreib-
und Nähmaschine, allerlei nützlichen Krimskrams, ein zweites Zelt mit
Zubehör, jede Menge Bücher und das besagte Federbett in der Reisetasche
schickten wir, in Kartons verpackt, auf den Weg nach Südamerika. Wir
sollten eine böse Überraschung erleben, als wir Monate später die Fracht
in Empfang nahmen.
Zwischen Esquel und Trevelin / Provinz Chubut |
In meiner Erinnerung verknäueln sich die letzten Tage zu einem Chaos aus Verabschiedungen, dringenden Besorgungen und der hektischen Suche nach den Dollar, die wir im Laufe der Monate nach und nach eingetauscht und an den unglaublichsten Stellen in der Wohnung versteckt hatten. Dumm, dass wir uns nicht einmal auf den Betrag einigen konnten, den wir finden mussten. Vielleicht hat der Student sich eines schönen Tages gefreut über einen Zuschuss zu seiner Haushaltskasse.
In
eine riesige Herrenunterhose, die ich zu diesem Zweck gekauft hatte,
nähte ich verschiedene Fächer ein, in die ich die Geldbündel, in
Zellophan gehüllt, steckte. Wir hätten das Geld lieber nach Argentinien
überwiesen, aber zu jenem Zeitpunkt hatte man uns an offizieller Stelle
ganz inoffiziell davon abgeraten. Es sei ungewiss, ob die Bank uns am
Zielort dann tatsächlich den Betrag in Dollar und nicht in der
inflationären Landeswährung auszahlen würde.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen