7. Kapitel


1

Es regnete, als wir am frühen Abend Rio de Janeiro verließen. Grauer Himmel über grauem Häusermeer, Autos und Busse im Sprühnebel auf der Schnellstraße und das Herz wie ein Stein in der Brust.
‘Hast du Angst?’ hörte ich Victors Stimme in meinem Inneren. ‘Er wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.’ Ich faltete meine Hände und Zuversicht zog in mein Herz. Auf einmal wurde mir klar, dass es ja immer nur das Hier und Heute gibt. Wenn ich in meiner Stuttgarter Alltagsroutine den Eindruck hatte, das Morgen schon fest in der Hand zu halten, nur weil ich auf einem Fetzen Papier ein Tagesprogramm für den nächsten Tag gekritzelt hatte, so war das ein Trugschluss. Wenn ich abends in meinem Bett die Augen schloss, wusste ich damals, genauso wenig wie heute, was mich am nächsten Morgen erwartete. Egal ob hier auf der Landstraße im fremden Kontinent oder an einem vertrauten Ort zwischen bekannten Menschen, stets liegt unser Schicksal in Gottes Hand, ob wir das nun wahrhaben oder nicht.
Mühsam errichten wir gegen unsere Zukunftsangst ein Bollwerk, gebaut aus einem Acht-Stunden-Tag am Arbeitsplatz, Sparkonten, Lebensversicherungs- und Bausparverträgen, und glauben uns in Sicherheit vor der Unbill des Lebens. Wir verschanzen uns hinter der Routine des Alltags und bauen darauf, dass nichts das Vertraute aus den Fugen heben werde. Und doch könnte schon im nächsten Augenblick alles anders sein. Vieles liegt in unserer Hand, aber nicht alles. Verlieren wir diese Tatsache, über allem Sorgen und Vorsorgen für die Zukunft, nicht allzu leicht aus den Augen?
„Ist doch ein toller Bus“, unterbrach mein Willi unvermittelt meinen Gedankengang und hielt mir eine eisgekühlte Limonade hin.
Wirklich, der Bus war erstklassig und luxuriös. Anstatt der üblichen vier Sitze in jeder Reihe gab es nur drei, der Abstand zwischen den Reihen war groß genug, dass mein Willi seine 185 Zentimeter fast flach ausstrecken konnte. Die Lehnen ließen sich soweit kippen und Fußstützen aufklappen, dass man bequem liegen konnte. Wir saßen ganz vorne neben der Truhe, wo die eisgekühlten Getränke lagerten, aus der sich die Fahrgäste nach Belieben frei bedienen konnten. Wir machten die nächsten 50 Stunden regen Gebrauch davon. Alles deutete zunächst auf eine überaus bequeme Reise hin.



2


Wir streckten uns aus, betrachteten die Landschaft und plauderten, während der Bus im strömenden Regen nach Süden rollte. Nachts schliefen wir ein paar Stunden. Der nächste Morgen empfing uns mit einem blankgefegten, tiefblauen Himmel über einer grünen Landschaft voller Wald und Viehweiden. In Millionen Regentropfen brach sich das Sonnenlicht. Alles glitzerte und funkelte. Die Sonne stieg schnell höher, und es wurde heiß. Sehr heiß. Die Klimaanlage war kaputt, und wir verschmachteten fast. Wir schwitzten aus allen Poren, an uns klebten die Kleider und wir an den Sitzen. Wir füllten uns ab mit eisgekühltem Mineralwasser.
In Florianópolis stiegen viele Leute aus und noch mehr ein. Hier besiegelte sich auch unser weiteres Schicksal für den Rest der Reise. Für eine ältere Dame, die keuchend und ächzend ihre Fettmassen in den Bus zu hieven versuchte, wurde eine stabile flache Kiste als erste Stufe hingelegt. Der Busfahrer zog sie von vorne an beiden Händen, von hinten schoben der Beifahrer und die laut jammernde Freundin der fetten Dame. Nur mit Mühe konnte sie den breiten Gang passieren, um sich hinter meinem Willi, ganz außer Atem, in die Polster fallen zu lassen. Die Freundin hatte den Fensterplatz hinter mir.
„Mein Gott, Maria“, nörgelte sie mit quäkender Stimme. „Du bist viel zu dick. Du musst endlich abnehmen. Denk an dein Herz.“
Maria erholte sich nur langsam von ihrer Anstrengung und konnte, vor lauter nach Luft schnappen, zunächst nichts sagen. Sobald sie wieder einigermaßen hergestellt war, befahl sie in barschem Ton:
„Delia, meine Tasche!“
Es begann ein Hantieren und Rascheln hinter uns. Sodann biss Maria in ein riesiges Schinkenbrot, schälte sich noch ein paar harte Eier und spülte das ganze mit drei Flaschen Limonade nach, die ihr mein Willi nacheinander aus der Eistruhe holen musste. Maria aß Pralinen, Käsebrote, Erdnüsse, Orangen und Bananen. Mein Willi servierte ihr in regelmäßigen Abständen Limonade. Am Spätnachmittag begann Maria zu stöhnen, stampfte ungehalten mit den Füßen und begann schließlich zu weinen. Mein Willi erkundigte sich nach dem Grund ihrer Missstimmung. Wir erfuhren, dass die fette Dame ein dringendes Bedürfnis habe, dem sie aber nicht nachgehen könne, weil sie in die Bustoilette nicht hineinpasse. Mein Willi holte den Beifahrer, der die Dame auf die Ankunft in Porto Alegre vertröstete. Tränenüberströmt entstieg sie dort, unter der Mithilfe vieler helfender Hände, dem Bus und wackelte am Arm ihrer Freundin in Richtung des rettenden Örtchens. Erst nach geraumer Zeit tauchten die beiden wieder auf. Maria lutschte freudestrahlend an einem Schokoladeneis.
Maria hatte sich auch panierte Schnitzel besorgt, frisch frittiert in ranzigem Fett, deren Geruch den ganzen Bus ausfüllte, dazu eine Tüte „Pommes“. Später gab es Käse, der, nach dem hitzigen Tag in der Plastiktüte, sehr streng roch. Es folgten wiederum Pralinen. Maria verstand es vorzüglich, die unendliche Reise in viele kleine Etappen aufzuteilen.
Wenn sie nicht gerade aß, plauderte sie mit meinem Willi. Sprachschwierigkeiten gab es kaum. Die Damen waren Argentinierinnen und sprachen Spanisch. Mein Willi hätte lieber schweigend die Landschaft beobachtet, aber als höflicher Mensch lieh er Maria sein Ohr. Delia, die Freundin der fetten Dame schlief die meiste Zeit. Selbst im Schlaf hatte sie einen bitteren Zug um den Mund. Das welke, vogelartige Gesicht war gelblich mit einem dunklen Hof um Mund und Nase, auf der Oberlippe ein feiner Damenbart, das dünne Haar struppig vom Dauerwellen und Färben. Klapperdürr war sie, flachbrüstig, und ganz das Gegenteil von Maria, die nur aus Wogen bestand. Dieser hingen die Backen blaurot rechts und links vom Kinn auf den wulstigen Hals hinab. Ihre lebhaften Schweinsäuglein waren tief im Speck eingebettet. Sie hatte die Haare fuchsrot gefärbt und trug sie kurzgeschnitten, eng an den Kopf geklatscht. Schweißperlen standen ihr im Gesicht, das sie sich mit einem kleinen Handtuch von Zeit zu Zeit abwischte, das sie zuvor mit Lavendelwasser tränkte. Sie atmete schwer, was sie aber nicht daran hinderte, viel zu reden und unvermittelt in lautes Gelächter auszubrechen, gerade wenn man es am wenigsten erwartete.
Die zweite Nacht brach an, und mein Willi machte es sich bequem, kippte seine Lehne zurück. Maria war empört, machte ihren Gefühlen lautstark Luft und unterstrich ihren Widerstand durch einen Trommelwirbel ihrer Fäuste gegen Willis Rückenlehne. Dieser wusste nicht wie ihm geschah. Erschrocken drehte er sich nach der Dame um, die wütende Blitze aus ihren Schweinsäuglein abschoss.
„Sie können sich doch nicht auf meinen Schoß legen, Sie Flegel“, herrschte sie meinen verdatterten Willi an. „Sie wissen seit einem ganzen Tag, dass ich hier sitze und es verdammt eng ist.“
„Señora, es ist reichlich Platz vorhanden“, erwiderte mein Willi. „Außerdem können Sie sich ebenfalls zurücklegen.“
„Das werde ich nicht“, sagte die fette Dame aufgebracht und schnappte nach Luft.
„Ich würde mich aber gerne hinlegen“, sagte mein Willi. „Vielleicht möchten sie in der ersten Reihe sitzen. Dann haben sie keinen Vordermann. Wir könnten die Plätze tauschen.“
„Das werden wir nicht“, fauchte die fette Dame. „Ich mag nicht vorn sitzen.“
„Hören sie mal, gute Frau“, sagte mein Willi, und ich hörte in seiner Stimme ein Unwetter aufziehen, „ich habe viel Geld bezahlt, damit ich mich unterwegs ausstrecken kann. Lassen sie mich wenigstens die Lehne ein Stückchen nach hinten kippen.“
„Sie Rohling“, herrschte Maria ihn an. „Sie werden sich hüten einer armen, kranken Frau den Platz streitig zu machen.“
Mein Willi blieb sitzen.
Später schlief Maria ein. Mein Willi kippte vorsichtig seine Lehne etwas zurück. Vergeblich versuchten wir zu schlafen. Maria schnarchte uns mit offenem Mund in die Ohren. Ich entglitt schließlich doch in einen langen, dunklen Tunnel. Bevor ich sein Ende erreichte, wo die Traumwiese auf mich wartete, schrak ich hoch. Maria war erwacht und haute mit ihren Fäusten auf Willis Rücklehne herum. Seufzend setzte er sich hoch.
Maria wimmerte zuerst leise und dann immer lauter. Wieder plagte sie ein allzu menschliches Bedürfnis. Mein Willi weckte den Beifahrer, der mit Maria verhandelte. Schließlich hielt der Bus auf freier Strecke. Der Fahrer, der Beifahrer, Delia, mein Willi und ich halfen der fetten Dame aus dem Bus. Im roten Schein der Rücklichter gingen wir zwei Frauen ihr bei der umständlichen Erledigung ihres Geschäftes zur Hand. Weißes Mondlicht ergoss sich auf das wellige Grasland, auf dem ein paar Pferde standen. Schnurgerade lag die Straße hinter uns.
Nach der taufrischen Nachtluft verschlug mir der Mief nach Schweiß und schlafenden Menschen fast den Atem, als wir wieder einstiegen. Wir hatten Maria mit Mühe in den Bus gezerrt und geschoben und sie sorgfältig auf ihrem Sessel verstaut. Weinerlich bedankte sie sich bei uns.
„Hören Sie, gute Frau“, sagte mein Willi und versuchte aus der Situation Kapital zu schlagen, „vielleicht finden wir einen Kompromiss. Ich lasse meinen Sitz langsam soweit herab, wie Sie es ertragen. Sie geben mir Bescheid.“
Maria fügte sich. Mein Willi machte es sich, so gut er konnte, bequem, aber schon nach wenigen Minuten trommelte Maria wieder mit den Fäusten und schlug meinem Willi, als er nicht sofort aufsprang mit der flachen Hand auf den Kopf. Mein Willi knirschte mit den Zähnen und stellte den Sitz wieder gerade.
„Delia, meine Tasche“, ordnete Maria an.
„Bei Gott, Maria, versuche zu schlafen“, jammerte Delia.
„Meine Tasche!“ fuhr Maria sie an. Delia rührte sich nicht. „Ich arme, kranke Frau bin angewiesen auf anderer Leute Laune“, jammerte Maria und kramte nach der Tasche zwischen Delias Beinen.
Ihr Atem ging pfeifend beim Versuch sich zu bücken. Ich stellte meine Lehne höher, um ihr den Zugang zu der Tasche zu erleichtern. Delia fügte sich schließlich und zerrte die Tasche hervor. Maria wühlte lange darin herum, knisterte und raschelte mit Papier und aß sich dann durch einen ganzen Sack knuspriger Kartoffelchips.
„Wenn sie jetzt noch eine Limonade will, schütte ich ihr die ganze Flasche über den Kopf“, knurrte mein Willi.
Sie wollte. Mein Willi reichte sie ihr schweigend. Sein Gesicht sprach Bände. Schließlich war der letzte Chip geknabbert, das letzte Papier zerknüllt und in die Tasche gestopft. Es kehrte Ruhe ein. Maria ließ ihre Rücklehne etwas hinab und lehnte sich behaglich zurück. Bald schnarchte sie. Mein Willi ließ ebenfalls seine Lehne hinab, legte sich gemütlich zurecht und schlief schließlich auch ein. Ich schaute hinaus, wo in der Ferne der Widerschein einer Stadt den Horizont rötlich färbte.
Bei Tagesanbruch hielten wir an. Grenzkontrolle. Im Morgenrot fuhren wir über die Brücke des mächtigen Rio Uruguay nach Argentinien. „Übergang der Freien“ hieß der Ort. Flach dehnte sich unter dem flammenden Himmel das Grasland bis an den Horizont. Argentinien, das Land der Gauchos: Grüne Pampa und Rinder, stundenlang. Am Nachmittag stiegen wir, mit mehreren Stunden Verspätung, steifbeinig, verschwitzt und hungrig in Buenos Aires aus dem Bus. Wir verabschiedeten uns flüchtig von Maria. Mein Willi sagte:
„Jetzt bloß fort hier, bevor ich ihr doch noch eine reinhaue.“
Wir waren da. Und jetzt? Wo sollten wir hin und wie dorthin gelangen?



3


„Ich werde zuerst Hugo anrufen, dann suche ich ein Hotel. Du bleibst mit dem Gepäck hier“, entschied mein Willi, während wir unser Hab und Gut mühselig und in mehreren Etappen in das Gebäude des Busbahnhofes schleppten.
Vor ein paar Monaten hatten wir Hugo kennengelernt. Er lag bei unserem Freund Carlos unter dem Esszimmertisch. Nicht dass er betrunken gewesen wäre. Er schlief eben dort. Hugo hatte mit seiner Frau und den drei Kindern über zehn Jahre in Deutschland gelebt. Sie hatten es gut gehabt, aber die alte Heimat lockte. Die Frau und die Kinder zogen mit Sack und Pack nach Buenos Aires zurück, während Hugo noch ein paar Wochen Karosserien schweißen musste, um seinen Kündigungstermin einzuhalten.
Carlos war ein wahrer Freund und gab Hugo während dieser Zeit eine Bleibe, die einzige, die er ihm außer seinem eigenen Bett hätte anbieten können: Unter dem Esszimmertisch. Inzwischen war Hugo längst seiner Familie gefolgt, aber es waren ein paar tausend Mark auf einem Festgeldkonto zurückgeblieben und als es fällig war, wusste kein Mensch, wie das Geld nach Argentinien gelangen sollte. Carlos steckte es uns zu, samt der Telefonnummer von Hugos Nachbarin.
„Nur ein Kind am Telefon: Mama ist nicht da, kommt aber bald“, sagte mein Willi und rieb sich den Nasenrücken. „Und jetzt?“
„Warten wir eben einen Moment“, sagte ich.
Es sollte ein stundenlanger Moment werden.
Das nächste Mal rief ich an. Am anderen Ende der Telefonleitung meldete sich eine Frau. Ich bat sie, mit Hugo oder dessen Frau sprechen zu dürfen.
„Rufen Sie in fünf Minuten wieder an“, sagte die Frau sehr liebenswürdig.
Ich rief in fünf Minuten wieder an.
„Leider“, sagte sie, „ist niemand zu Hause. Wo sind sie denn?“
„Auf dem Busbahnhof.“
„Auf welchem?“ Ich blicke mich Hilfe suchend um, fand aber keinen Hinweis.
„Ich muss erst fragen“, sagte ich und wandte mich an den pickeligen Pomadenheini, der nebenan Zeitungen verkaufte.
„Bitte sagen Sie mir doch, wo ich bin“, bat ich ihn.
Er schaute mich an, als ob ich nicht alle Tassen im Schrank hätte.
„Wie heißt dieser Busbahnhof?“, fügte ich hinzu.
„Ach so“, sagte er und feixte. „Das ist der Retiro.“
Meine Gesprächspartnerin erklärte mir, dass Hugo als Busfahrer arbeite. Die Route seiner Linie führe genau am Retiro vorbei. Sie wusste auch, dass er jetzt gerade im Dienst war.
„Ist ja toll. Auf den warten wir“, sagte mein Willi. „Der weiß sicher, wo wir ein günstiges Hotel bekommen. Ich stelle mich einfach draußen an die Haltestelle.“
Ich verschanzte mich hinter unserem Gepäckhaufen auf einer Bank, und grübelte darüber nach, wie wir das alles von hier fort in ein Hotel schaffen sollten. Wo unsere Geldhose mit dem Startkapital in Sicherheit bringen?
Mein Willi kam lange nicht zurück. Als er schon über eine Stunde fort war, begann ich mir große Sorgen zu machen. Was sollte ich tun? Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Es vergingen noch einmal fast drei Stunden, in denen meine Phantasie mir die schlimmsten Bilder malte, bis ich schließlich ganz kopflos war. Dann kam er.
„Ich stellte mich draußen an die Haltestelle. Es war wie im Hafen von Salvador“, erzählte er. „Millionen Busse, aber kein einziger von Hugos Linie. Schließlich fragte ich einen Busfahrer, der sagte mir, dass jene Linie gut 500 Meter von hier entfernt vorbeifährt. Er nahm mich kostenlos mit. Tatsächlich kam auch bald ein Bus von Hugos Linie. Ich fragte den Fahrer nach ihm. Er kannte ihn sogar und bestätigte mir, dass Hugo heute Dienst habe. Ich wartete. Irgendwann musste er ja kommen. Später fuhr jener Kollege zum zweiten Mal an mir vorbei. Als er mich sah, hielt er an und sagte: Wenn mein Kumpel noch nicht vorbei kam, dann hat er Feierabend, denn ich bin mit meiner Runde fertig. Hugo hätte irgendwann dazwischen auftauchen müssen. - Ich bin müde und völlig fertig.“
„Ich rufe noch einmal an“, sagte ich.
Die Nachbarin war ganz außer sich, als sie erfuhr, dass wir Hugo nicht getroffen hätten und beeilte sich, ihn zu holen. Hugo ließ mich gar nicht zu Wort kommen, er sagte nur:
“Ich komme.“
Inzwischen war es draußen längst dunkel geworden. Wo blieb Hugo nur so lange? Schließlich warteten wir schon fast zwei Stunden.
„Wenn Hugo die nächste Viertelstunde nicht kommt, fahren wir mit einem Taxi ins Zentrum und nehmen das nächstbeste Hotel. Ich bin nicht mehr in der Lage, auch nur ein paar hundert Meter zu gehen. Ich brauche eine Dusche, ein Essen, ein Bett“, sagte mein Willi und vergrub das Gesicht in den Händen.



4


Wir waren seit 60 Stunden unterwegs, als wenige Minuten später Hugo mit einer Gruppe von Leuten suchend durch die Halle ging. Obwohl wir uns nur flüchtig kannten, gab es ein großes Hallo. Er hatte seine ganze Familie mitgebracht, und die freundliche Nachbarin war auch dabei.
„Ihr kommt zu uns“, sagte Hugo. Seine kleine Frau und die Nachbarin nickten eifrig. Jeder griff ein Gepäckstück. Schon stürmten sie davon, wir hinterdrein. Wir hasteten über den Parkplatz zur Straße, wo ein Bus, völlig ohne Beleuchtung, langsam auf uns zu rollte. Ehe ich noch begreifen konnte, was geschah, waren alle eingestiegen.
„Schnell, schnell!“ riefen sie und zogen uns mit.
Der Fahrer grüßte strahlend, zwei Kinder lächelten uns schüchtern zu, und alle brüllten vor Lachen, als ich den Geldbeutel zog, um zu bezahlen. Der Fahrer winkte ab und legte eine Musikkassette ein. Eine verwirrende, verrückte Busfahrt begann.
Ohrenbetäubend laut dröhnte ein flotter Rock`n Roll aus dem Lautsprecher. Ich begriff gar nichts und setzte mich erst einmal hin. Eine bunte Lichterkette war rund um die Windschutzscheibe befestigt, deren Lichter jetzt im Takt der Musik aus und an gingen. Bei jedem Gangschalten leuchtete der Knauf des Gangschaltungshebels purpurfarben auf. Eine Madonna mit dem Jesuskind im Arm hing in trautem Verein mit einem bonbonrosafarbigen Teddybären vom Innenspiegel. Am Armaturenbrett waren rechts und links die argentinische Flagge und die Vereinsflagge des Fußballclubs von „Boca Junior“ gehißt.
Oben auf dem Armaturenbretter klebten kleine Figuren: ET, Donald Duck, Supermann, und noch ein paar Persönlichkeiten, deren Namen ich nicht kannte. In der linken Ecke neben dem Fahrer hingen, an einer Schnur aufgefädelt, die Bilder mild lächelnder Heiliger und senkrecht am Rahmen, zwischen Windschutzscheibe und Seitenfenster, prangte phosphoreszierend auf silbrigem Grund ein Aufkleber „Gott schütze Dich“. Rund um den Fahrersitz war ein langfloriger, weinroter Teppichboden. Alle Chromteile des Busses waren auf Hochglanz poliert. Uns blieb bei soviel Pomp und Kitsch der Mund offen. Der Fahrer nahm es mit stolzgeschwellter Brust wahr.
„Das ist mein zweites Heim“, sagte er.
Auf der flotten Fahrt quer durch die Stadt, die fast eineinhalb Stunden dauerte, brüllten uns Hugo, seine Frau und die Nachbarin gegen den Rock und Pop an, leider alle gleichzeitig, so dass es eine geraume Zeit dauerte, bis wir begriffen, was es mit dieser Fahrt auf sich hatte.
Hugo war eben nach Hause gekommen. Die Nachbarin hatte Hugos Frau längst alles erzählt, diese wiederum berichtete das Ganze ihrem Mann, kaum, dass er seinen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, just als wir das letzte Mal anriefen. Hugos Nachbar ist auch Busfahrer und hatte gerade Feierabend. Abgekämpft und hungrig wie er war, schwang er sich trotzdem sofort hinter das Steuer, lud die ganze Gesellschaft ein und fuhr zu unserem Empfang.
„Jetzt müssen wir halt aufpassen, dass uns keiner anhält. Wenn der Boß was merkt, gibt es Scherereien“, sagte Hugo und grinste.
Ab und zu winkten an den Haltestellen Leute, um unseren Bus anzuhalten und starrten uns verärgert nach, als wir einfach an ihnen vorbeifuhren. Mir kam das alles vor, wie ein Traum, als wir, so schnell der alte Motor hergab, durch die nächtliche Stadt brausten. Ein Bus ganz für uns allein.
Kurz vor Mitternacht löffelten wir eine aufgewärmte Suppe. Es schmeckte uns köstlich, obwohl wir vor Müdigkeit kaum die Augen offen halten konnten. Hugo überließ uns das eheliche Schlafzimmer, die Eltern schlüpften in die Betten zu den Kindern.
Wir blieben fast eine Woche in Buenos Aires bei Hugo und seiner Familie. Sie halfen uns, Adressen und Telefonnummern zu finden, führten uns ihren Freunden vor und frischten Erinnerungen an Stuttgart und gemeinsame Freunde auf.
Wir hatten verschiedene Geschäftsideen für unsere Zukunft auf Lager und wollten unseren Aufenthalt in der Hauptstadt dazu benützen, so viele Informationen wie möglich einzuholen. Wir hetzten tagelang von einer Stelle zur anderen, von einem Gespräch zum anderen, überall mussten wir Schlange stehen, oft nur um zu erfahren, dass der Herr oder die Dame nicht zuständig waren. Alle waren nett und freundlich, aber keiner konnte uns klare Antworten geben. Vielleicht lag es an unseren Fragen. Am Ende hatten wir einen Haufen Formulare und wussten soviel wie vorher. Vorläufig streckten wir die Waffen.



5


Es geschah an einem glutheißen, stillen Nachmittag, zu einer Zeit, da jeder Porteño Schatten und Ruhe sucht. Wir standen an der breitesten Avenida der Erde, der Straße des 9. Juli, und warteten auf den Bus, als wir überfallen wurden. Ich merkte es gar nicht gleich, mein Willi, Gott sei es gedankt, überhaupt nicht, sonst wäre es wohl nicht so glimpflich abgegangen. Er hatte eben seine Börse in die Hosentasche geschoben, nachdem er die abgezählten Geldscheine für die Fahrt in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt hatte, als eine Frau mittleren Alters, vom Typ der biederen Haufrau, eine große Einkaufstasche in der Hand, von hinten an uns herantrat.
„Guter Mann!“ rief sie. „Ihnen hat ja ein Vogel einen Fleck auf die Schulter gesetzt.“
Mit diesen Worten drückte sie mir ihre Einkaufstasche in die Hand. Ich schaute nach oben und wunderte mich für einen Augenblick, denn wir standen weit entfernt vom nächsten Baum. Tatsächlich prangte ein ockergelber, schmieriger Fladen hinten auf Willis hellgrünem Hemd. Donnerwetter, dachte ich, als ich ihn sah, das war aber ein sehr großer Vogel. Die Frau zog ein Taschentuch hervor und wischte meinem Willi an der Schulter herum. Derweil trat ein Mann hinzu, in hellblauem Polohemd, dunkelblauer Hose, die schwarze Aktenmappe unter den haarigen Arm geklemmt, die Andeutung von Unterwürfigkeit eines Hausierers in der Körperhaltung. Auch er war mit einem Taschentuch bewaffnet.
„Sie Ärmster“, sagte er mit näselnder Stimme, drückte meinem Willi die Aktenmappe in die Hände und rückte seine Hornbrille zurecht „Es hat sie wirklich arg erwischt.“
Dabei hantierte er im Verein mit der Hausfrau am ganzen Willi herum, der inzwischen mehrere riesige, gelbe Flecken an Hemd und Hose, selbst in seinem Haar hatte. Plötzlich fiel bei mir der Groschen. Lieber Gott, laß den Bus schnell kommen und mach, dass mein Willi nichts merkt. Der haut sonst zu und dann?
Eine bezaubernde junge Frau kam dazu und mischte sich ein: „Sie haben auch einen Teil abbekommen. Ich werde sie sauber machen.“ Schon wischte sie an meinem Rücken herum. „Wenn sie ihre Tasche herunternehmen, kann ich besser an den Fleck heran“, sagte sie und versuche mir den Riemen meiner Umhängetasche, die ich quer vor dem Bauch hängen hatte, über den Kopf zu ziehen.
Mir fiel nichts Besseres ein, als der Frau einfach die Einkaufstasche der anderen in die Arme zu drücken, ihr dann um den Hals zu fallen, sie fest an mich zu drücken und zu stammeln:
„Vielen Dank, sie sind zu freundlich, aber es geht schon. Lassen sie nur.“
Die beiden anderen, die meinem Willi halfen, sich zu säubern, verteilten dabei immer mehr von der gelben Sauerei. Der Mann nestelte nebenbei an dem Bändel herum, an dem mein Willi seine Geldbörse, eine zum Umhängen für Kinder, an die Gürtelschlaufe gebunden hatte. Ich riß den Gauner an meine füllige Brust, preßte meine Wange an seine, strich ihm über sein schütteres, strähniges Haar und bedankte mich überschwenglich für seinen Beistand. Meine etwas glutvolle Liebesbezeigung brachte ihn völlig aus dem Konzept.
Die bezaubernde Junge hatte die fremde Tasche abgestellt und fummelt bereits wieder an meiner Umhängetasche herum. Ich warf ihr wieder meine Arme um den Hals. In der Ferne sah ich den Bus kommen, als ein junger, etwas finster dreinblickender Bursche, wie aus dem Nichts, auf dem menschenleeren Gehsteig auftauchte. Die bezaubernde Junge winkte in her:
„Ach helfen Sie uns doch. Schauen sie sich diese Bescherung an.“
„Da kommt unser Bus“, rief ich. „Willi halt ihn an.“
Mein Willi war immer noch, gemeinsam mit der Hausfrau, ganz vertieft in die Beseitigung der unappetitlichen Spuren. Hektisch umarmte ich alle noch einmal flüchtig, um uns in Bewegung zu halten und bedankte mich herzlich, dann stiegen wir ein. Ich sah, wie die vier Personen gemeinsam auf ein Auto zu rannten, schnell einstiegen und davonfuhren. Mein Willi ärgerte sich über die Flecken.
„Mensch Willi! Freu dich doch, dass alles so gut abging.“
Er starrte mich ärgerlich an.
„Wieso gut abging?“ fragte er giftig. „Schau mal wie ich aussehe und das Zeug stinkt auch noch.“
„Willi, das war ein Überfall und ich habe 3000 Dollar in der Umhängetasche. Jetzt kannst du mir eine reinhauen. Ich habe das Geld neulich geschwind da hineingestopft und vergessen, wieder heraus zu tun.“
Mein Willi schaute völlig entgeistert. Dann rief er:
„Das ist ja ungeheuerlich. Warum hast du nichts gesagt? Die hätte ich alle kurz und klein geschlagen.“
„Eben“, erwiderte ich. „Ich fand umarmen und küssen sicherer. Du siehst, es hat gewirkt. Die Gauner waren eh nicht sehr sattelfest in ihrem Handwerk. Sie haben dir nicht einmal das Fahrgeld aus der Hemdtasche stibitzt. Das waren blutige Anfänger.“
Mein Willi rieb sich ausgiebig die Nasenwurzel, dann sagte er grollend:
„Ich hätte sie kurz und klein geschlagen.“
„Und ich hätte dich jetzt im Krankenhaus besucht.“
Außer dem Schrecken, ein paar stinkenden Senfflecken und einer neuen Erfahrung trugen wir nichts davon.



6


Eines Freitags standen wir wieder mit unseren Gepäckbergen am Retiro. So originell, wie wir vor Tagen vom Retiro zu Hugos Heim gekommen waren, war auch unser Fortgehen. Hugo wich kaltblütig ein paar hundert Meter von seiner Route ab und holte uns, mit ziemlich vollbesetztem Bus, bei sich zu Hause ab. Wieder begleitete uns die ganze Familie. Hugo winkte energisch ab, als wir bezahlen wollten.
„Macht doch nicht so viel Aufsehen“, brummte er.
Eigentlich ist es unzulässig, größere Gepäckmengen im Bus mitzuführen. Wir drängten uns samt dem Gepäck auf dem Rücksitz. Spielte das eine Rolle, bei der Liste von Vergehen, derer wir uns auf dieser Fahrt schuldig machten? Weil es in letzter Zeit öfter zu Überfällen auf Stadtbusse gekommen war, selbst am hellichten Tag, war ich wieder einmal besorgt, um unseren Besitz und unser Leben. Mit den vielen Taschen und Rucksäcken waren wir augenfällige Opfer. Auch der dümmste Dieb konnte sich denken, dass keiner ohne Geld verreist und hier was zu holen war.
Ein Glück, zwei Haltestellen weiter stieg, bis an die Zähne bewaffnet, ein Polizist ein. Der Gesetzeshüter stellte sich breitbeinig vor uns auf und starrte mit stählernem Blick vor sich hin. Seine Kiefermuskeln spielten dabei unter der glattrasierten Haut. Mit einer Hand hielt er sich fest, die andere hatte er markig zur Faust geballt. Stramm stand der drahtige, kleine Mann da, die Hinterbacken in seiner straff sitzenden Hose fest zusammengekniffen. Das Auge des Gesetzes wachte über uns. Ich vertraute seiner abschreckenden Wirkung und vertiefte mich in ein letztes Gespräch mit Hugos Töchtern.
Die Fahrt verging wie im Flug. An der Endhaltestelle stiegen alle aus. Außer uns. Noch bevor neue Fahrgäste einsteigen konnten, gab Hugo Gas zu einer rasanten Extratour. Wir fegten über ein paar verkehrsreiche Kreuzungen und hielten mit quietschenden Bremsen vor dem Busbahnhof. Jeder schnappte sich ein Gepäckstück und rannte damit bis in die Halle des Busbahnhofes. In fliegender Hast verabschiedeten wir uns und schon sauste Hugo mit seinem Anhang hinter sich, wie ein Komet mit seinem Schweif, durch die Halle und verschwand durch die Drehtür. Wir traten unsere vorletzte Etappe an.



7


Nachdem wir einen halben Vormittag vor dem Fahrkartenschalter der Eisenbahn in einer langen Schlange gewartet hatten, nur um zu hören, dass kein Schlafwagenplatz mehr frei sei, mussten wir also wohl oder übel mit dem Bus fahren. Es war nicht nur unbequemer, sondern auch teurer. Dafür aber wesentlich schneller. Es gab eine ganze Handvoll Gesellschaften, die in unsere Richtung fuhren. Wir klapperten alle ab und entschlossen uns, für den billigsten.
„Wo soll da schon ein Unterschied sein?“ sagten wir und täuschten uns gewaltig.
Obwohl es längst Zeit zur Abfahrt war, war weit und breit kein Bus zu sehen. Erst eineinhalb Stunden später fuhr er vor. Die meisten Fahrgäste zuckten bloß die Schultern, andere bedrängten den Fahrer um eine Erklärung.
„Werkstatt.“ Von außen machte der Bus nicht viel her, innen war es staubig, die Polster zerschlissen, es roch muffig.
Als die 15-Millionen- Stadt hinter uns lag, umgab uns bis an den Horizont nur Gras, ab und zu schoben sich kleine Baumgruppen ins eintönige Bild. Es war heiß, und wir schwitzten wieder einmal aus allen Poren. Es sollte für längere Zeit das letzte Mal sein. Wir hätten es genießen sollen, stattdessen hätte ich, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Teufel meine Seele versprochen, für ein ausgiebiges Duschbad. Als am späten Nachmittag der Bus an einem Rasthaus hielt, ließ ich mir minutenlang das Wasser, das ganz lau aus der Leitung kam, über die Arme laufen und fluchte über die Schwüle, die über dem Land brütete. Viele aßen im Restaurant, andere setzten sich, wie wir, in den Schatten unter den Pappeln nieder und packten ihr Vesper aus. Eine Stunde später ging die Fahrt weiter.
Gegen Abend verschwand die Sonne hinter einer schwarzen Wolkenbank, die am flachen Horizont drohte. Wir fuhren der Hölle entgegen. Wenig später raste ein Sturm daher, drückte das Gras flach gegen den Boden und trieb hinterdrein Platzregen über das topfebene Land. Der Bus fuhr nur im Schrittempo, schließlich hielt er am Straßenrand an. In allen Richtungen zuckten Blitze, züngelten am Firmament entlang, stießen wie feurige Speere vom Himmel herab und schlugen ihre Spitzen in die Erde. Das ohrenbetäubende Krachen der Donnerschläge erfüllte die Luft. Der Bus schwankte im Anprall der Sturmböen. An den Fensterscheiben drang der Regen herein, lief an den Wänden hinab, tropfte durch die Lüftungsklappen an der Decke, sammelte sich in Pfützen im Mittelgang, durchnäßte die Polster der Fensterplätze. Es wurde kühl. Als der Regen nachließ, fuhren wir weiter. An den Fensterrahmen saßen hunderte von Käfern, die das Wasser aus ihren Schlupfwinkeln getrieben hatte. Ich rückte soweit wie möglich ab.
„Mensch, Willi, wir hätten halt doch ein paar Mark mehr für die Fahrt anlegen sollen“, sagte ich und schloß angeekelt die Augen.
Später stand der Mond am klaren Himmel und warf harte Schatten an die felsigen Hänge. Wir hatten das flache, fruchtbare Land verlassen. Gegen Morgen glitzerte der Frost auf dem kargen, steinigen Boden. Wir froren erbärmlich in unserer sommerlichen Kleidung, denn der Bus hatte keine Heizung und unsere Mäntel und Anoraks lagen gut verstaut unten im Gepäckraum. Eng aneinander gekuschelt erwarteten wir den neuen Tag, der blau und eisig hinter uns im Osten heraufzog und die fernen Schneefelder der Andengipfel vor uns leuchten ließ.
Am späten Vormittag waren wir da. Wir zerrten unsere Anoraks aus den Reisetaschen. Mein Willi beeilte sich, ein Hotelzimmer zu finden, während ich in kurzen Hosen und Winteranorak vor dem schneidend kalten Wind hinter einer Mauer Schutz suchte, das Gepäck in Sichtweite. Mein Willi kam schon wenige Augenblicke später zurück.
„Gleich um die Ecke, mein Gelimädchen, wartet ein völlig überheiztes Zimmer auf deine blaugefrorenen Beine.“
Nach und nach schleppte er unsere Habseligkeiten fort, ich paßte auf den Rest auf.
Es verschlug mir fast den Atem vor Hitze, als ich das Zimmer betrat. Trotzdem stellte ich mich lange unter die heiße Dusche. Auf meinen Beinen blühte ein Nesselausschlag und juckte fürchterlich. Nachmittags wollten wir einen Spaziergang durch die Stadt machen. Die Sonne schien, aber der schneidende Wind, der um die Hausecken pfiff, trieb uns bald in eines der zahlreichen Cafés.
„Hättest du gedacht, dass es Ende Oktober hier noch so kalt ist?“ fragte mein Willi.
Er wärmte sich die kalten Hände an der heißen Teetasse.
„Wahrscheinlich spüren wir die Kälte nach den heißen Monaten in Brasilien ganz besonders. Wenn bloß unsere Pakete aus Deutschland bald kommen, dass wir wenigstens warme Kleider haben“, sagte ich.
Wir ahnten nicht, dass unsere Pakete erst einen Monat später kommen, und wir bis dahin noch manches Mal vor Kälte schlottern würden.
Ein trüber Morgen empfing uns, als wir das Hotel am anderen Tag verließen. Schwarze Berge unter grauem Himmel. Der Wind hatte sich fast gelegt.
„Die letzten 130 Kilometer von ungefähr 14000“, sagte mein Willi, als das alte Vehikel ratternd und knatternd die Stadt verließ.
Unterwegs nach Los Abedules begann es zu nieseln. Nebelschwaden zogen durch die Täler, die Berggipfel waren in Wolken gehüllt. Auf halber Strecke machten wir Rast. Eine Handvoll elender Holzhütten, um ein stillgelegtes Sägewerk gruppiert, eine winzige Kapelle, zu der steil ein schlammiger Weg hinauf führte, der von großen Büscheln gelber Narzissen gesäumt war, ein Schulgebäude und eine Kneipe, bildeten die einzige Ansiedlung auf dem Weg von der Kreisstadt nach Los Abedules. Alles verließ den Bus und drängelte sich händereibend um die Tonne im Gastraum, in der ein Holzfeuer bullerte. Nur spärlich fiel Licht durch die kleinen Fenster des kümmerlichen Holzhauses. Es roch nach kaltem Rauch und Schaffell. Eine gute Weile später ging die Fahrt weiter.
Es war, als hätten wir Los Abedules erst vor kurzem verlassen. Wie bei unserer Abreise vor 19 Monaten lag es grau, nass und kalt da, die Straßen zur frühen Nachmittagsstunde verlassen. Hätten Erna und Richard uns nicht erwartet, wäre es ein trister Empfang gewesen für uns zwei Neuankömmlinge. Erna stand strahlend in ihrer winzigen Küche. Auf dem Tisch dampfte schon der heiße Kaffee, Kuchen und Torten wurden aufgetragen. Es war warm und behaglich bei unseren Freunden.
Sie waren vor kurzem in ihr neues Haus gezogen, lebten allerdings auf engstem Raum, denn der Innenausbau war längst noch nicht fertig.
„Erna, wie hältst du das bloß aus?“ fragte ich. „Das schlimmste, was mir je passieren könnte, wäre, in einer Baustelle leben zu müssen.“
Erna lachte und zuckte die Schultern.
„Mir wäre es auch lieber, die Zementsäcke im Flur würden bald verschwinden, aber es gibt schlimmeres. Auch wenn es in der Küche ziemlich eng zugeht, besonders jetzt, wo unsere Tochter mit ihrem Baby zu uns kommt, aber Hauptsache ich bin in meinen eigenen vier Wänden, weißt du“, sagte sie. „Das Bad und das Schlafzimmer sind ja bis auf Kleinigkeiten fertig.“
Ich bewunderte ihre Gelassenheit. Tage später wäre ich froh gewesen, auch nur annähernd so komfortabel zu wohnen, wie Erna und Richard.
Wir durften, was wir an Gepäck nicht gleich brauchten, bei den beiden lassen. Richard brachte uns im Wagen durch den verregneten, düsteren Abend in eine Pension. Das Zimmer war ebenerdig, klein und spartanisch eingerichtet. Der Winter wohnte noch in den Wänden und das Bett war klamm. Der Regen trommelte an die Scheiben. Wir saßen fröstelnd auf der Bettkante, beim trüben Schein der Deckenlampe und schauten uns müde und beklommen an.
„Nun sind wir da. Und jetzt?“ sagte mein Willi und rieb sich die Nasenwurzel.
„Tja, und jetzt? Morgen suchen wir eine Bleibe, das ist das Wichtigste“, sagte ich.
„Aber wir haben ja gar nichts, keine Möbel und keinen Hausrat“, wandte mein Willi ein.
„Das werden wir alles kaufen, aber erst einmal brauchen wir so schnell wie möglich ein Dach über dem Kopf.“
Ein Dach über dem Kopf - Möbel - Hausrat: Wie einfältig wir doch waren.







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