1. Kapitel

Flamingos nahe Esquel/Prov. Chubut/HTL


1

Alle fragen: „Warum seid ihr nach Argentinien gekommen?“ Zufall oder Vorbestimmung, Abenteuerlust oder Suche nach der heilen Welt?

Im zarten Alter von neun Jahren brachte ich meinen ersten und einzigen Roman zu Papier. Es war eine äußerst verzwickte Liebesgeschichte zwischen Inés, der reichen, schönen Tochter des Gutsbesitzers und dem heißblütigen Gaucho Manuel. Die Romanze nahm ihren Lauf auf einer feudalen Estanzia in der unendlichen Weite der argentinischen Pampa. Keine Ahnung, was mich damals gerade zu diesem Handlungsort inspiriert hatte. Danach vergingen mehr als zwanzig Jahre, ehe ich wieder etwas mit Argentinien zu tun hatte.

In jenen Jahren lebte ich mit meinem Mann Alfred an Spaniens sonniger Orangenblütenküste. Wir verbrachten unsere Zeit hauptsächlich mit unnützen, angenehmen Dingen: Baden im Meer, im warmen Sand räkeln, Muscheln sammeln und Orangen essen. Eines Tages lernten wir ein argentinisches Pärchen auf Flitterwochenreise kennen. Unsere Einladung zu einem Abendessen bei Kerzenschein nahmen sie anstandslos an und blieben der Einfachheit halber gleich zehn Tage uneingeladen.

Von da an stelzte mein Alfred stolz in echt argentinischen Gauchostiefeln herum, die ihm der etwas saftlose, bleichschnäblige Porteño (Einwohner Buenos Aires‘) als großzügige Aufmerksamkeit für unsere bescheidene Gastfreundschaft hatte zukommen lassen. Der junge Gatte ahnte nicht, dass sich mein samtpfötchenweicher Alfred sein Gastgeschenk längst bei der glutäugigen, wohlproportionierten Gattin erschmeichelt hatte. Von da an zerfiel unsere längst morsche Ehe im Handumdrehen. Noch viel geschwinder hatte sich das argentinische Pärchen aus dem Staub gemacht, nicht ohne uns um ein paar wertvolle Erbstücke zu erleichtern.

Alfreds Techtelmechtel mit der aufreizenden Puppe war mir auf den Magen geschlagen, nun wollten mir die Orangen nicht mehr schmecken. Ich packte meine Sachen und zog in die „größte deutsche Kleinstadt“(Thaddeus Troll), nach Stuttgart, um mir einen Jugendtraum zu erfüllen: Ich wurde Heilpraktikerin. Hier kam trotz Büroarbeit und Abendschule die Liebe wieder in mein Leben.

Wilhelm, ein gutaussehender Mann von langsamen Entschlüssen, dickschädliger Ausdauer, mit bürgerlichen Wertmaßstäben, stand mitten in einer erfolgversprechenden Karriere, als er mich heiratete. Einerseits genoss ich die finanzielle Sicherheit, die mir unsere Verbindung bot. Andererseits fiel es mir schwer, nach all den Jahren des ungebundenen, zwanglosen Lebens unter Spaniens Sonne, nun die brave, biedere Hausfrau zu werden, die täglich mit dem Einkaufsnetz an Supermarktkassen Schlange steht und die Maultaschen pünktlich auf den Tisch bringt, die Hemden makellos bügelt und freitags kehrwöchelt, (In Schwaben ist auch Ende des 20. Jahrhunderts die Kehrwoche ein heiliges Ritual und aus keinem halbwegs ordentlichen Leben wegzudenken.), samstags im Schönbuch wandert.

Je mehr es mir gelang mich meiner Idealvorstellung einer häuslichen Gattin zu nähern, einschließlich des wöchentlichen Kaffeeklatsches mit anderen angepassten Frauen, desto öfter sagte mein Willi:

„Das kann doch nicht alles gewesen sein. Draußen findet das Leben statt, während ich im Einerlei ersticke und angekettet an meinen ergonomischen Bürosessel meine besten Jahre am Computer vergeude.“

Angesichts der am deutschen Wirtschaftshimmel heraufziehenden Wolken, beneideten ihn alle um seinen gut bezahlten, sicheren Posten; er aber träumte immer öfter vom großen Aufbruch und Abenteuer. Zunächst goss ich Wasser auf seine Mühle. Zu zweit hin gekuschelt in der Sofaecke, träumten wir bei einem Glas Württemberger vom Globetrotten, vom Siedeln, vom einfachen Leben irgendwo im letzten Erdenwinkel.


Als mein Willi jedoch immer mehr in Aufbruchsstimmung geriet und immer weniger Lust zur Büromühle hatte, wurde ich wachsam. Die Existenzangst packte mich. Mir gefiel nämlich die wohlgefüllte Haushaltskasse, nach all den Jahren der zwar holden, aber entbehrungsreichen Freiheit in Spanien. Nach einer Erbschaft hatten Alfred und ich damals unsere Traumwohnung am Meer gekauft und sehr komfortabel eingerichtet, doch davon abgesehen waren wir arm wie Kirchenmäuse.

Auf meinem Stuttgarter Tisch standen, statt der Suppe aus Fischabfällen, Forellen mit Kräuterbutter mit jungen Kartoffeln, statt der Eintöpfe aus billigen Gemüseresten vom Markt, gab es Schweinebraten mit Spätzle und Kartoffelsalat. Ab und zu schwelgten wir in irgendeiner Besenwirtschaft im Remstal in Schlachtplatten und Trollinger. Ich liebte all die kulturellen Möglichkeiten, die uns Stuttgart bot. Bücherei, Oper, Ballett, gemütliche Weinstuben. Mein schwäbisches Schlaraffenland wollte ich nicht einfach darangeben für eine ungewisse Zukunft. Meine Freiheit, von der ich immer geglaubt habe, sie sei mir das Wichtigste, hatte ich frohgemut weggeschmissen zu Gunsten der Annehmlichkeiten eines angepassten Lebens. Außerdem träumte ich von einer Naturheil- Praxis. Schließlich hatte ich nur deshalb jahrelang die Abendschule besucht und gebüffelt, um kranken Menschen zu helfen. Ich hatte teure Seminare mitgemacht, Kongresse besucht und als Praktikantin gebuckelt.

In den langen Nächten eines besonders kalten Winters versuchte ich meinen Willi davon zu überzeugen, dass er, als etablierter Spießer, auf keinen Fall das Zeug zum Abenteurer habe.

„Warum nicht?“, fragte er.

„Weil Du die ausgelatschten Pfade liebst“, sagte ich. „Wenn ich quer durch das schwarzwälder oder hohenloher oder was weiß ich für Unterholz brechen will, versteifst du dich auf den Weg, der in der Wanderkarte eingezeichnet ist.“ Er schwieg dazu.

Eins zu Null für mich.

„Du bist kein Unternehmer“, sagte ich am nächsten Abend. „Außerdem geht dir jegliche Phantasie ab für selbstgebackene Pläne. Du kämpfst doch viel lieber für vorgegebene Ziele.“

„Mann, redest du einen Stuss daher!“ Eingeschnappt stand er auf und ging in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Zwei zu Null für mich.

„Willst du denn Tag und Nacht schuften?“, fragte ich später im Bett.

„Nö, wieso?“ knurrte er.

„Pioniere müssen nämlich darben, schwitzen, schuften, reiben sich völlig im Überlebenskampf auf. Willst du das wirklich?“
Er schnarchte leise.
Drei zu null für mich.

Schauerliches malte ich ihm aus, Abend für Abend und mit wachsender Inbrunst. Teils schöpfte ich aus meinem eigenen Erfahrungsschatz vom Leben im ewigen Geldmangel, teils aus den Erzählungen der Abenteurer und Aussteiger, deren Biographien ich zeitlebens mit Heißhunger verschlungen habe.

Längst stand es über Hundert zu Null für mich, als mein schweigender Willi endlich den Mund öffnete und meinen, in monatelanger Kleinarbeit, mühsam errungenen Punktsieg mit einem Schlag zunichtemachte.

„Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie wissen. Also versuche ich es.“ Punktum.

Als der Mai mit all seinen süßen Düften und der bunten Blumenpracht den Stuttgarter Talkessel herausputzte, hatte ich meinen Willi wenigstens so weit gebremst, dass er seine Stellung bei dem Industriegiganten nicht einfach hinwarf, sondern sich erst einmal mit einer längeren Reise „irgendwohin“ zufriedengeben wollte.

Nun lag die ganze Welt vor uns. Die einzigen Grenzen setzte unser Sparbuch. Monatelang schmökerten wir in Reiseführern, beschlossen und verwarfen Traumziele auf allen Kontinenten. Eines lauen Abends, als wir von der Alten Weinsteige auf die Dächer der Stadt hinab schauten, trat Argentinien wieder in mein Leben.

„Buenos Aires. Patagonien. Feuerland“, sagte mein Willi und schaute dem Flugzeug nach, dessen Kondensstreifen golden in der Abendsonne schimmerte. „Wir gehen nach Argentinien.“

Warum gerade dieses Reiseziel?

So halt.

Hätten wir damals gewusst...

Landschaft bei Trewelin Prov. Chubut/HTL

                                                               2

Unsere Reisepläne hatten feste Formen angenommen. Wir wussten über Land und Leute, Geschichte, Klima und Verkehrsverbindungen Bescheid. Eine hervorragende, im ganzen Ländle zusammengekaufte Ausrüstung harrte auf ihren Einsatz. Niemals hätte ich mir träumen lassen, als ich mit dem vom Verkäufer so hochgelobten Igluzelt in der Straßenbahn heimwärts fuhr, dass ich mein Schlafzimmer für viereinhalb Jahre auf dem Schoß hatte. Planen und vorbereiten war aufregend für uns Neulinge. Manche Nacht lag ich wach in meinem Bett und bekam Gänsehaut bei der Aussicht in Patagoniens Einsamkeit, vom Puma belauert, den berüchtigten Stürmen, den „brüllenden Fünfzigern“, nichts als die Zeltplane entgegen setzen zu können. Mein Willi fieberte mit 38°C im wahrsten Sinne des Wortes der Reise entgegen und war noch auf dem Transatlantikflug so krank, dass die Stewardessen ihn bevorzugt behandelten. Seine plötzliche Genesung beim Überqueren des Äquators grenzte an ein Wunder.

Kreuz und quer, mit Flugzeug, Bus, Boot, Fähre und zu Fuß reisten wir durchs wilde Patagonien und kamen, wie geplant, in der zehnten Woche nach Los Abedules. Trotz allerlei Zwischenfälle hatten wir uns, wie es sich für meinen Willi gehört, genau an unser Reiseprogramm gehalten. Nichtsahnend, dass ab jetzt alles anders werden würde, schweiften unsere Blicke von der Höhe über das liebliche Tal. Im Abendsonnenschein lag das Städtchen eingebettet zwischen bewaldeten Höhenrücken, mit den gletscherbedeckten Anden im Westen und im Osten den schroffen Zacken des „Der in den Wolken träumt“, der langgestreckt und gewaltig mit seinen über 2000 Metern Höhe das Tal beherrschte. Während der Bus die Landstraße hinab dem Ort zueilte, sagte mein Willi:
„Wie schön. Hier möchte ich leben.“
„Deprimierend“, knurrte ich mürrisch. Ich war müde, verdrossen, verschwitzt und verstaubt.
Los Abedules, das Heiligtum der Hippies der 60er Jahre, das Eldorado vieler, auch europäischer Aussteiger, der Tummelplatz der Esoteriker, ein Fleckchen, wo die Welt noch in Ordnung zu sein scheint, dieses Markenzeichen für heile Welt liegt wie eine Oase am Rand der windgepeitschten patagonischen Trockensteppe. Das Mikroklima erlaubt sogar den Anbau von Obst und Hopfen.
Für uns wäre Los Abedules eigentlich bloß eine Busstation auf dem Weg zum Lago-Blanco-Nationalpark gewesen, aber wir hatten Freunden versprochen, bei einer deutschen Familie hier am Ort Grüße zu bestellen. So lernten wir Erna und Richard kennen. Sie freuten sich riesig und nahmen uns liebevoll auf.
„Ich bin früh in Pension gegangen“, erzählte Richard. „Wir beschlossen Argentinien kennenzulernen.“
Sie lebten zuerst mal hier, mal dort und landeten am Ende in Los Abedules.
„Uns gefällt es. Hier bringt uns keiner mehr weg.“
Sie lebten in einem gemieteten Häuschen, waren aber bereits stolze Bauherren eines hübschen Fachwerkhauses mitten im Ort.
Erna verwöhnte unsere strapazierten Mägen mit guter deutscher Hausmannskost. Richard fuhr mit uns in seinem klapprigen Lieferwagen über holprige Schotterpisten, um uns die Berge, Wälder, Flüsse und Wasserfälle in der Umgebung zu zeigen. Wir blieben länger, als geplant. Hätten wir gewusst... „wären wir schnell weitergereist“, sollte mein Willi später oft sagen.
Schließlich verbrachten wir noch ein paar sonnige Frühherbsttage am Lago Blanco, stopften uns mit süßen Brombeeren voll und schipperten mit Manuel, einem Aussteiger aus Spanien, auf dem See herum. Einen trägen Nachmittag lang, an dem die Zeit still stand, erzählte er von seinem Märchenland, talaufwärts, wo er ein paar Hektar Wald und Dickicht sein eigen nannte.
Abends am Lagerfeuer brutzelten wir eine Lammkeule.
„Ach Geli“, seufzte mein Willi. „Schon bald sitze ich wieder in diesem Stahlbetonkäfig mit Ausblick auf die Trasse der Stadtautobahn, als winziges Teilchen im ungeheuren Räderwerk der Wirtschaftsmaschinerie, während hier ein Tal seinen Traum lebt.“
Nachdenklich blickte er in die Flammen und kraulte das zottige Fell des herrenlosen Köters, der sich zum Feuer gesellt hatte, in der berechtigten Hoffnung auf einen großen Knochen.
Wir saßen immer noch, als das Feuer längst verglüht war und lauschten dem Rascheln des Nachtgetieres im Buschwerk. Die Luft war still, klar und würzig vom taufeuchten Gras. Im See spiegelte sich der Vollmond. Die Berge hoben sich scharf ab gegen den dunkelblauen Samt des Firmamentes, Schneefelder schimmerten im fahlen Licht.
Ein letztes Mal besuchten wir Erna und Richard. Wir saßen bei Kaffee und Apfelkuchen, als ein Freund unserer Gastgeber hereinschaute. Mit diesem Besuch sollte unser Leben eine entscheidende Wendung nehmen.



Nahuel Huapi Bariloche Prov. Rio Negro/HTL
                                                                    3

Anstatt, in den nächsten 14 Tagen an den chilenischen Seen zu wandern, verbrachten wir die Zeit in verstaubten Amtsstuben, in klapprigen Autobussen unterwegs in die Kreisstadt, manchmal an Ernas Küchentisch und - auf unserem eigenen Grund und Boden. Unser Zelt hatten wir auf einem sehr gepflegten, sehr komfortablen Campingplatz weit außerhalb des Ortes aufgestellt. Nur eine Handvoll Sommergäste waren übrig geblieben. An jenem schicksalsträchtigen Nachmittag in Ernas guter Stube hatten wir nämlich den alten Eugen kennengelernt. Hager, groß, trotz seiner 75 Jahre ungebeugt, begrüßte er uns mit festem Handschlag. Er war ein lebhafter und gesprächiger Mann, und wir hörten ihm gerne zu, wenn er in seinem holprigen, altertümlich anmutenden Deutsch erzählte, wie er als kleiner Bub mit Vater und Mutter aus Deutschland ins Land der Gauchos gekommen war. Unser kurzer Abschiedsbesuch dehnte sich dadurch mehr und mehr in die Länge und wurde schließlich Auftakt für unser patagonisches Abenteuer.

Im Laufe des Nachmittags wurden nebenbei auch die neuesten Neuigkeiten aus dem Dorfleben ausgetauscht. Wir erfuhren, dass Eugens Freund Paul von Frau und Kindern im Stich gelassen worden war. Wir hörten zu, nichtsahnend, dass, von uns allen unbemerkt, die Nornen unsere Schicksalsfäden mit denen des so schändlich Verlassenen zu verspinnen begonnen hatten. Eugen erzählte mit bekümmerter Miene:
„Abgehauen, einfach abgehauen sind sie, diese elende Bande, dahin zurück, wo sie vor drei Jahren herkamen. Jetzt muss der Paul sein Häuschen verscherbeln und dann nichts wie weg, der Frau hinterher. Hoffentlich renkt sich das wieder ein. Die Laura ist eine verdammt schwierige Person und wollte auf keinen Fall hier leben. Aber tüchtig ist sie immer gewesen und der Paul braucht sie. Er ist ein guter Mensch, aber halt ein Träumer.”
Wir erfuhren eine Menge über Pauls Schicksal. Am Ende wusste ich nicht, ob mir der arme Kerl oder seine Frau mehr leidtun sollte. Er wollte sich den Traum vom Landleben erfüllen, als er mit Kind und Kegel nach Los Abedules kam, wollte seinem Leben eine Wende geben. Sie wäre lieber in der Stadt am Meer geblieben, wo die Eltern lebten, die Geschwister und all ihre Jugendfreunde. Auf jeden Fall hatte der Paul in Los Abedules hart schuften müssen für ein Butterbrot und ein Ei. Mit vielen Entbehrungen war er im Laufe der drei Jahre zu seinem Grundstück gekommen. Aus dem Traum war ein Alptraum geworden. Nichts wollte so recht klappen und nun war ihm auch noch die Frau davongelaufen. Eugen schilderte uns Pauls Schicksal sehr eindringlich und versuchte unser Interesse am Kauf des Grundstückes zu wecken.
Wir machten uns am Ende alle auf, um das wohlfeile Objekt in Augenschein zu nehmen. Keiner von uns dachte auch nur entfernt an einen Kauf. Wir waren höchstens ein bisschen neugierig geworden.
Am Ortsrand, abseits der Straße, versteckt hinter undurchdringlichem Weidendickicht, stand hin geduckt am Rand einer riesigen Wiese ein kleiner Rohbau, an den sich eine winzige Blockhütte schmiegte. Unser Blick schweifte über das Grün der Viehweiden mit den buntgescheckten Kühen, über kleine Feldgehölze, hingestreut auf den Grasteppich, dahinter eine Barriere aus hohen Pappeln, die das Tal zerschnitt. Linkerhand kennzeichnete ein Wall aus alten Weidenbäumen den Verlauf eines Baches. Im Norden vermochte man das Ende des weiten, sonnigen Tals nur zu erahnen. Im Westen ragten hinter dunkelgrünen Hügelketten, zum Greifen nah, die Felsen der Anden in den blauen Nachmittagshimmel. Über den schneebedeckten Gipfeln standen reglos weiße Wolkenfahnen. Wie eine Wand stieg “Der in den Wolken träumt “ im Osten aus dem Tal. Jeder Schritt über die Wiese hüllte uns in das frische Aroma der Minze, die überall wuchs. Geschäftig plätscherte ein Bach, nur wenige Schritte am Haus vorbei. Wir waren hingerissen vom Zauber der Szenerie.
Die beiden einzigen Nachbarhäuser, fast hundert Meter entfernt, blieben völlig verborgen hinter Büschen und Bäumen. Paul, der Herr über dieses Paradies strahlte über unsere Begeisterung und führte uns eifrig herum. Im hinteren Teil des Gartens durcheilte ein schmales Rinnsal das Wiesenland, wand sich unter dem Wurzelwerk der Weiden hindurch, um im Nachbargrundstück zu verschwinden. Paul hatte sich ein Gemüsegärtchen angelegt und verteidigte es rastlos gegen das hereindringende Gras und Unkraut. Nahe beim Haus hatte er eine Trauerweide gepflanzt, Schwertlilien und Gartenmargeriten vor der Tür.
„Das ist der schönste Platz im ganzen Dorf!”, rief Erna begeistert aus.
Tatsächlich vereinten sich hier die Vorteile der Ortsnähe, wie Einkaufsmöglichkeiten, Strom– und Wasserversorgung, mit den Herrlichkeiten des Lebens in der einsamen Natur.
Paul war bereit, dieses Kleinod für einen Pappenstiel herzugeben. Traurig sagte er: „Ich muss halt schnell verkaufen und deshalb annehmen, was man mir bietet.“
Mein Willi machte abends Kassensturz.
„Wenn er uns noch 500 $ nachlässt, dann könnten wir das Häusle kaufen.”
„Du spinnst wohl!“, sagte ich entsetzt.
„Du, liebe Geli, hast daheim doch immer groß getönt: Aber das sage ich dir, wir schmeißen das sauer verdiente Geld nicht für irgendwelche Krimskrams– Souvenirs zum Fenster hinaus. Wenn, dann kaufen wir wenig, aber etwas Wertvolles”, sagte mein Willi und äffte mich dabei bemerkenswert gut nach.
Im Laufe des Abends meldete ich erst behutsam und dann immer heftiger meine Bedenken über den Sinn und Zweck dieser Geldausgabe an, die in unsere eiserne Reserve ein erschreckend tiefes Loch reißen würde. Mein Willi hörte mir aufreizend aufmerksam zu. Als ich meine Beweisführung beendet hatte, verkündete er fröhlich:
„Ich finde, es ist ein phantastisches Reiseandenken.“ Damit war jede weitere Diskussion überflüssig geworden.
In jener Nacht lag ich lange wach. Ich kam zu dem Schluss, dass uns diese Geldausgabe durchaus nicht an den Bettelstab bringen würde. Wäre es nicht herrlich verrückt, wenn wir daheim unseren Freunden und Verwandten sagen könnten, dass wir ein Stück amerikanischen Boden besitzen. Völlig närrisch und schön. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr gefiel mir die Idee.
Ich staune noch heute über den reichlich exzentrischen Entschluss des Dutzendmenschen Willi, den er, ganz entgegen seiner Art, auch noch in Windeseile gefällt hatte.




Nahuel Huapi, Dina Huapi, Prov. Rio Negro/HTL


                                                                      4

Am anderen Morgen wurde das Geschäft mit einem kräftigen Handschlag besiegelt. Paul war’s zufrieden, mein Willi strahlte, und mir schlug das Herz höher, als ich erneut auf der Märchenwiese stand.

“Und überhaupt“, sagte ich, „können wir in ein paar Jahren das Grundstück wieder verhökern. Mit dem Gewinn machen wir eine Weltreise.“

Kaufen. Verkaufen. Wie einfach wir uns das damals alles vorstellten. Woher hätten wir auch die Winkelzüge der argentinischen Gesetzgebung kennen sollen? Wie dem großzügigen, so schnell dahin gesagten „Alles kein Problem” vieler Argentinier eine wirklichkeitsgerechte Bedeutung beimessen können? Wir waren in einer anderen Welt und bemerkten es nicht. Es galten andere Maßstäbe und wir legten einfältig die unseren an.

Ein paar Tage später unterschrieben alle Beteiligten beim Notar. Wir hatten viele Fragen, bevor wir zur ehrwürdigen Handlung schritten. Das einzige, was wir begriffen, war, dass alles überhaupt „kein Problem“ sei. Als wir das Thema Baugenehmigung ansprachen, winkten alle lässig ab. Der Notar versicherte uns, dass man hier im Land erst baue und dann die Baugenehmigung einhole. Das komme entschieden billiger.

„Denken Sie, dann hat der Architekt ja viel weniger Arbeit mit dem Plan. Er muss ja nur noch abzeichnen, was er sieht“, sagte er. Das leuchtete uns ein, wirkte aber doch irgendwie seltsam auf uns. Zwei Jahre später sollte uns diese Auskunft eine

Mehrere –Tausend - Mark- Strafe eintragen. Aber auch das war dann in der Tat „kein Problem“. Inzwischen ist alles längst bezahlt. Warum machen wir uns im Leben bloß so viele Probleme?

Kaum hatten wir das Geld auf alle ausgestreckten Hände verteilt, tauchten merkwürdige Unklarheiten auf. Wir waren gerade unsere eiserne Reserve losgeworden und, bis auf 500 Dollar, unser gesamtes Reisegeld, deshalb ließ es uns nicht kalt, dass das Geschäft plötzlich an einem seidenen Faden hing. Als wir Einwände erheben wollten, schaute uns der Notar geringschätzig über den Rand seiner Brille hinweg an.

Es hatte sich plötzlich herausgestellt, dass Paul zwar der Eigentümer war, aber doch nicht richtig, denn da war außerdem die Witwe García, der das eigentlich gehörte. Aber ohne die Unterschrift des Rechtsanwaltes Gómez ginge leider gar nichts, denn ganz eigentlich gehöre das Land jenem.

„Das ist ein sehr anständiger Mann”, sagte der Notar, während er in der unglaublichen Unordnung seiner Aktenstapel wühlte. Endlich schien er das Gesuchte entdeckt zu haben. Er reichte uns einen Schrieb.

„Alles kein Problem, Herr Gómez unterschreibt das sicher ohne Einwände.”

Mir war etwas beklommen zumute.

„So, ich beglückwünsche Sie zu ihrem neuen Grundstück”, sagte der Notar und führte uns zur Tür.

Mit einem unguten Gefühl fuhren wir am anderen Morgen in die 130 Kilometer entfernte Kreisstadt. Würden wir Herrn Gómez zu einer Unterschrift unter ein Dokument bewegen können, das besagte, dass er zwar der Eigentümer sei, aber alle Ansprüche abtrete und wir das Grundstück auf unseren Namen eintragen könnten? Würde der Mann das einfach unterschreiben?

Fast vier Stunden quälte sich der klapprige Bus über Höhen und durch tiefe Täler zum Ziel. An schwindelerregenden Abgründen vorbei, über schwankende Behelfsbrücken, unter überhängenden Felsblöcken lenkte der Fahrer das knatternde Vehikel den schmalen Weg entlang. Das Gestänge der seit Jahrzehnten durchgesessenen Sitze drückte sich in meine Rückseite, stieß bei jedem Schlagloch in mein gequältes Fleisch. Eine ungeheure Staubwolke, die der Bus bei seiner Fahrt über die Schotterpiste aufwühlte, überzog das Land weithin mit einer grauen Schicht, drang in Schwaden zu den Fenstern herein und legte sich auf unsere Haare, die Gesichter, die Kleider und das Gepäck.

Die meisten Fahrgäste dösten vor sich hin. Ich beobachtete den Mann auf der anderen Seite des Ganges. Er saß ganz aufrecht da und starrte apathisch aus dem Fenster, bis ihm die Augen zufielen. Langsam neigte er sich zu seiner Rechten, um schließlich unsanft mit dem Kopf gegen die Scheibe zu stoßen. Dabei verrutschte sein breitkrempiger Hut. Er richtete sich kerzengerade auf, rückte den Hut zurecht und starrte geistesabwesend hinaus in die Landschaft, bis ihm wenig später die Augen erneut zufielen. Damit begann er sich aufs Neue nach rechts zu neigen, bis er wieder mit dem Kopf gegen das Fenster schlug. Ich bewunderte seinen Gleichmut, denn der gleiche Ablauf wiederholte sich in kurzen Abständen während der nächsten zwei Stunden.

Hinter uns hielt eine Mutter ihre drei rotznasigen Bengel mit Keksen in Schach. Zweien wurde es schließlich übel, und sie kotzten in den Mittelgang. Außer uns schien das aber keinen zu stören. Der säuerliche Gestank mischte sich mit dem Geruch nach Staub und Diesel. Mein Magen begann zu rebellieren.

„Meinst du, dass dieser Gómez tatsächlich unterschreiben wird?” fragte mich mein Willi, während ich mir Pfefferminzöl auf die Zunge träufelte und um die Nase schmierte, um Magen und Geruchsinn zu betäuben.

„Wenn er es nicht tut, können wir vermutlich gar nichts machen”, antwortete ich und beschwor mein Frühstück dort zu bleiben, wo es war.

Auf dieser Fahrt nahmen wir die Schönheiten der Natur kaum wahr. In der Stadt angekommen, mussten wir uns beeilen. Es war bald Mittagszeit und dann würden wir niemanden mehr antreffen. Außerdem wollten wir mit dem Nachmittagsbus nach Los Abedules zurückfahren. Wir waren abgehetzt und verschwitzt, als wir die Kanzlei endlich in einer Nebenstraße fanden. Das Gebäude ein grauer Block, unten eine Eisenwarenhandlung, oben schäbige Büros. Beklommen stiegen wir in den zweiten Stock hinauf und betraten das Anwaltsbüro.

Eine sehr freundliche, sehr geschminkte, nicht mehr ganz junge Wasserstoffsuperoxyd- Bombe fragte uns: „Was kann ich für Sie tun?“

Nach kurzem Wortwechsel stöckelte sie mit dem Schriftstück unseres Notars durch eine Tür, deren Milchglasscheibe von oben bis unten einen Riss hatte.

”Allzu gut scheinen die Geschäfte des Herrn Doktor Gómez nicht zu gehen”, stellte ich fest.

Wir setzten uns auf die mit weinrotem Plüsch bezogenen abgewetzten Stühle, die so hoch waren, dass ich nur mit den Fußspitzen den Boden berühren konnte.

„Hoffentlich unterschreibt er”, flüsterte ich.

„Der Kerl unterschreibt nie. Ich ärgere mich krumm, dass wir so viel Geld hingeblättert haben“, zischte Willi.

Dann brüteten wir schweigend vor uns hin. Ich betrachtete das verblichene Poster an der fleckigen Wand. Es zeigte ein Schwarzwaldhaus auf einer einst sattgrünen Wiese. Dunkel zog sich dahinter der Wald den Hang hinauf, darüber spannte sich der verblasste Himmel; im Vordergrund schäumte ein Wildbach zwischen grauen Felsblöcken.

„Natürlich unterschreibt der Schurke niemals“, zischte mein Willi in die Stille. „Das ist doch ein Halunke, wie alle Rechtsanwälte.“

Nach einer kleinen Ewigkeit lernten wir endlich Herrn Gómez kennen. Er bat uns höflich in sein Büro. Lang, breit und verwirrend klärte er uns darüber auf, dass er eigentlich nicht unterschreiben müsse, wenn er nicht wolle.

„Der rechtmäßige und in das Grundbuch eingetragene Eigentümer bin ich. Ich habe das Grundstück dem Herrn García überlassen. Dieser Mann brachte sich vor einem Jahr um und hinterließ die Frau mit vielen Schulden. Diese Dame trat das Grundstück ihrem Angestellten ab (das war der Paul), weil sie ihm den Lohn von fast einem Jahr schuldete. Keiner hat jemals den Grundbucheintrag geändert. Das kommt hier oft vor, weil die Leute sich auf diese Weise teure Gebühren und Steuern sparen. Das ist jedoch sehr riskant. Wenn ich mich jetzt weigere zu unterschreiben, so können Sie gar nichts machen. Gar nichts“, sagte er und schaute uns mit hochgezogenen Augenbrauen herausfordernd an. „Wäre ich gestorben, erst recht nicht. Sie haben überhaupt keine Ansprüche!“

Ich hielt den Atem an. Du elender Lump, dachte ich. Das Geld war futsch. Aber Rechtsanwalt Gómez war in der Tat, wie der Notar schon gesagt hatte, ein anständiger Mann. Erleichtert traten wir wenig später auf die Straße, das unterschriebene Schriftstück in der Tasche.

„Da haben wir ja Glück gehabt!“, riefen wir wie aus einem Mund, nichtsahnend wie viel Geld wir in Zukunft gespart hätten, wenn dieser gute Mann damals nicht unterschrieben hätte.

Nahe Esquel/ Prov.Chubut/ HTL


                                                                      5

Jeder Besitz und sei er noch so unbedeutend, bringt Rechte und Pflichten mit sich.

Beginnen wir mit unseren Rechten: Wir konnten ab sofort auf unserem eigenen Grund und Boden nach Belieben ein- und ausgehen. Wir durften, wann immer wir wollten, die quietschende Eingangstür aus ungehobelten Brettern hinter uns abschließen, uns auf die einzige Sitzgelegenheit, der Kloschüssel, niederlassen und falls uns danach zumute war, mit den Unterarmen auf dem völlig verdreckten Waschbecken abstützen. Allerdings musste bei solcher Sitzung jedes eventuelle Bedürfnis entschieden verkniffen werden, denn es gab weder Wasser- noch Abwasseranschluss. Als Hausbesitzer durften wir nun ungefragt zu den Fenstern hinein- und herausschauen, auch wenn man nicht viel dabei sehen konnte, denn statt Glasscheiben verschlossen dicke Plastikplanen die Fensteröffnungen. Keiner hätte uns verbieten können, im halbfertig gebauten Kamin ein lustiges Feuerchen zu entfachen. Schnell hätten wir festgestellt, dass der Rauch lieber seinen Weg ins Haus nahm, anstatt durch den Abzug. Es stand da sogar ein wackliger, unbeholfen zusammengeschusterter Tisch, der nun uns gehörte. Sicher hätte sich dieses schiefe, schäbige Möbelstück niemals träumen lassen, uns jahrelang als Werkzeugbank zu dienen und dann, nach Jahren, immer noch nicht morsch, als Gartentisch sein Gnadenbrot zu bekommen.

Ab jetzt ließ ich meine Füße am eigenen Bachufer ins Wasser baumeln. Im Schatten unserer jungen Trauerweide träumte ich den Wolken nach, die, über dem Pazifik geboren, sich behäbig über die Kordilleren wälzten, um am blauen Himmel nach Osten zum Atlantik zu segeln. Wer will denn dabei über lästige Pflichten wie Steuern, Baugenehmigung, Grundbucheintragung, Strom- und Wasseranschluss oder gar Kloaken nachdenken?

Die Tage verflogen im Nu, die Nächte wurden bereits empfindlich kalt und nach einer stürmischen Regennacht lag auf den Gipfeln Neuschnee. Fröstelnd krochen wir aus dem Zelt. Unser Atem bildete dünne Wölkchen in der beißenden Morgenluft. Längst waren wir die letzten Camper auf dem Platz.

„Schau, das Dach ist nicht dicht“, stellte ich an jenem Tag fest, als wir bei unserem Häuschen vorbeischauten. „Die schöne Holzdecke wird uns im Winter verrotten.“

Nach einem verzweifelten Blick in die Reisekasse beschlossen wir, um größeren Schaden abzuwenden, die billige Dachpappe durch ein teures Zinkblechdach zu ersetzen. Schnell war ein Fachmann gefunden. In Los Abedules ist es immer sehr einfach, einen Fachmann zu finden. Für was es auch sein mag. Es scheint überhaupt nur Fachleute zu geben. Es ist erstaunlich. Hier weiß jeder auf allen Gebieten Bescheid. Es gibt Fachleute, die für wenig Geld ihr Fachwissen zur Verfügung stellen und solche, die es nur für sehr viel Geld tun, wobei der Preis nicht unbedingt etwas über die Kompetenz des Fachmannes aussagt. Wir hatten das große Glück, auf Anhieb einen zu finden, der uns für wenig Geld das überteuerte Zinkblech auf das Dach nagelte. Es war ein vergnügter, redelustiger Mann, und er hatte die ortsunübliche Eigenschaft, pünktlich zur Stelle zu sein. Nach getaner Arbeit drückte er uns geschäftstüchtig mit der Rechnung einen Kostenvoranschlag für die Fertigstellung des Hauses in die Hand. Auf diese Kostenaufstellung und das damalige allgemeine Preisniveau, das uns Dollarbesitzern paradiesische Zeiten versprach, stützten sich alle unsere zukünftigen, unseligen Finanzpläne. Das lag damals aber noch alles in ferner Zukunft.

Wir waren mit der Leistung des Mannes zufrieden, und er mit der prompten Bezahlung. Mag es an der Qualität seiner Arbeit gelegen haben, dass bei einem Sturm im zweiten Winter ein Teil der Bleche auf den umliegenden Wiesen landete? Noch ehe Richard einen anderen Fachmann anheuern konnte, war mehr als die Hälfte des Daches auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Mich traf diese Botschaft, die uns aus dem fernen Patagonien im Stuttgarter Frühsommer, wenige Wochen vor unserer Auswanderung, erreichte, wie ein Schlag in die Magengrube. Die Tatsache, dass uns einer sozusagen das Dach über dem Kopf geklaut hatte, ließ mich an unserer Entscheidung ernsthaft zweifeln. Was war das für ein Land! Wenig später kam mir zu Ohren, dass in einem schwäbischen Dorf das Kupfervordach einer Kirche im Rohbau über Nacht verschwunden war. Die Polizei fand keine Täter.

„Immerhin hat euer Dach ja ein ganzes Jahr unbeschadet überstanden. Was wollt ihr eigentlich mehr?”, sagte lachend unser uruguayischer Freund Carlos, der seit zehn Jahren im schwäbischen Ländle sein Brot verdiente, als wir, voller Empörung, gleich mit ihm telefonierten. Wir hatten ihn zu unserem Auswanderungsberater gemacht.

„Gewiss hatte ein armer Mensch die Bleche dringend nötig. Seid froh, wenn nicht schon einer seine Hütte auf eurem Land aufgebaut hat oder bereits in das Haus eingezogen ist. Dann könnt ihr nämlich kaum was machen.“

Aber das lag noch in weiter Zukunft und so waren wir sorglos, als es unwiderruflich Zeit zum Aufbruch aus Los Abedules geworden war und Richard uns versprach:

„Ich werde regelmäßig nach eurem Häuschen schauen.“

Mit seiner Hilfe hatten wir die Fensteröffnungen mit dicken Brettern vernagelt und die Haustüre mit einem stabilen Vorhängeschloss abgesichert.

An unserem letzten Tag in Los Abedules schien die Sonne noch einmal kräftig vom blauen Himmel. Wir hatten Erna und Richard zu einem Grillfest auf den Campingplatz eingeladen. Ein richtiges argentinisches Grillfest, ein „asado“, wie man das hier nennt, sollte es werden. Damals glaubten wir, dass ein halbes Pfund Fleisch, das wir für jeden rechneten, eine unglaublich reichliche Portion sei. (Später, als wir echte „asados“ erlebten, sollten uns die Augen übergehen.) Dazu tranken wir den schweren Wein aus Mendoza und aßen jede Menge Salat dazu. Wir saßen im Schatten alter Zypressen; im milden Licht der Nachmittagssonne glitzerten die Silberfäden, die der Frühherbst in die Lüfte spann.

Als wir uns am frühen Abend endgültig von unseren neu gewonnenen Freunden mit einer herzlichen Umarmung verabschiedeten, wurde mir schmerzlich bewusst, dass uns der Alltag in wenigen Tagen wieder eingeholt haben würde.

Im sinkenden Licht des Tages saßen wir noch lange am Ufer des „Murmelnden Wassers“. Wir schwiegen und lauschten der Geschichte, die der Fluss uns erzählte. Er sprach von der rauen Einsamkeit der kahlen Berge im Osten, wo wilde Stürme durch die öden Täler galoppieren. Jähzornig peitschen sie bei ihrem Ritt über das Land Sand und Staub vor sich her, zerren an den zähen Büscheln des Pampagrases und dem dürren Dornengestrüpp, entreißen es dem mageren Boden und jagen das Entwurzelte weithin über Stock und Stein. Wie lieblich war es nach all dieser Unbill für ihn im Schatten der Salweiden durch dieses Tal zu fließen, vorbei an Wiesen und Feldern, durch das Dorf, wo an den Ufern die Kinder ihre Angeln ins Wasser halten. Am Fuß der Kordilleren trifft er die eisigen Strudel des „Blauen Flusses“. Gemeinsam setzen sie ihren Weg fort, um ganz am Ende der Reise ihr Wasser in den Pazifik zu ergießen.

Nachts waren Wolken aufgezogen und der Wind rüttelte an unserem Zelt. Im strömenden Regen brachen wir am Morgen auf. Hastig hatten wir alles in die Rucksäcke gestopft, triefend nass und dreckverspritzt die Zeltplanen obenauf. Missmutig warteten wir am Straßenrand auf den Bus in die Stadt.

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